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Traum und Realität, Gesellschaftskritik und Mythologisches in
BRAZIL, einem Film von Terry Gilliam (1985)
 
Beitrag zum Filmseminar 1998 von Annette Bültmann
Der Film "Brazil" wurde als der im Vergleich zu den anderen Filmen des Regisseurs Terry Gilliam, ehemaligem Mitglied der Monty-Python-Komikertruppe, als der am wenigsten optimistische, aber persönlichste bezeichnet.
Im Film finden sich überall äusserliche Hinweise darauf, daß er mit Terry Gilliams persönlichem Leben verknüpft ist: Der Vorgesetzte der Hauptfigur des Films, eines kleinen Büromitarbeiters im Informationsministerium eines totalitaristischen Staates namens Sam Lowry, trägt den Namen von Terry Gilliams erstem Arbeitgeber, sein Kollege den eines anderen Mitglieds der Monty-Python-Truppe; der Regisseur hat (hitchcockmässig) einen eigenen kurzen Auftritt im Film, seine Tocher spielt eine Nebenrolle, Maskenbildnerin des Films ist seine Frau Maggie Weston; der Drehbuchmitautor des Films Charles McKeown spielt ebenfalls einen Kollegen.
 
1.Traum und Realität
Der Film ist ein besonders deutliches Beispiel für Terry Gilliams immer wiederkehrendes Thema, die Vermischung von Traum und Realität bzw. Magie und Realismus.
Er ist das Kernstück der sogenannten Traum-Trilogie "Time Bandits"- über die Phantasien eines Jungen, "Brazil"- die Hauptfigur ist ein jüngerer Mann, der ein Tagträumer ist, "Baron Munchhausen"- bei Münchhausen als älterem Mann und Geschichtenerzähler wird die Magie in Form von Geschichten wichtiger als die Realität; die Trilogie stellt also verschiedene Stationen im Leben eines Menschen dar.
In Brazil vermischen sich Traum und Realität im Laufe des Films zunehmend mehr.
Anfangs versucht Sam Lowry, seinem Leben als Zahnrad in der Maschine durch seine Träume zu entfliehen. Sein reales Leben besteht aus unsinniger Papierarbeit, die Beziehungen zu anderen Menschen sind ziemlich minimal, die anderen Personen des Films wirken oberflächlich oder wie Karikaturen. Sam ist anfangs eher unwillig, sich mit der Realität ausführlich zu beschäftigen, weil seine Träume ihm genügen. In seinen Träumen ist er ein Held, der mit einem wie angewachsene Flügel wirkenden Flugapparat durch die Wolken segelt, der Flugtraum steht für den Wunsch nach Freiheit, er schwebt weit über den Dingen, Jill, die weibliche Hauptfigur, lernt er zuerst im Traum kennen, im weißen Gewand wie die Karikatur eines übernatürlichen, zeitlosen Wesens oder der zu errettenden Jungfrau, erst später in der Realitätsebene des Films als Lastwagenfahrerin, ein sehr materieller Gegensatz zu der Traumgestalt.
Aber während Sams äußeres Leben im Laufe des Films immer mehr zerfällt fangen die Träume an sich zu realisieren. Gleichzeitig scheint Sam aber auf dem Weg in den Wahnsinn zu sein, denn er ist zunehmend von Symbolen umgeben und die Bürokratie verwandelt sich in eine Macht mit übernatürlichen Kräften.
Der Film bewegt sich zwischen Traum und Realität hin und her, die verschiedenen Wirklichkeitsebenen schieben sich ineinander.
Beim Set-Design und bei den Special-Effects erkennt man den ehemaligen Karikaturisten . Die sehr sorgfältig ausgearbeiteten Sets sind typisch für Terry Gilliam. Er zeichnet viele Szenen vor wie einen Comic. Normale Dinge wirken verzerrt und leicht grotesk (Terry Gilliam behauptet, daß ihm das erst auffällt, wenn andere ihn darauf aufmerksam machen). Weil das für Traum- und Realitäts-Szenen gleichermassen gilt, vermischen sie sich umso überzeugender. Auch das musikalische Thema "Brazil" kommt auf beiden Ebenen vor, wobei es auf der Realitätsebene durch den Kontrast zwischen der lieblichen Musik und der düsteren Szenerie die befremdliche Wirkung steigert.
Gleichzeitig wird auf der Realitätsebene das zweite Hauptthema des Films, das absurde System, in dem Sam ein kleines Zahnrad ist, in immer deutlicheren Formen dargestellt; anfangs fällt Sams Wecker aus, zum Schluß ist seine ganze Wohnung verwüstet; anfangs ist er ein, wenn auch untergeordneter, Experte des Papierkriegs, zum Schluß verhaftet und angeklagt wegen u.a. "Vergeudung von Zeit und Papier des Ministeriums".
 
2. Die Kulturindustrie
Das System in Brazil wird von einigen Kritikern gesehen als fortgeschrittenes Stadium dessen, was Adorno und Horckheimer in dem Text über die Kulturindustrie in dem 1947 in der ersten Auflage erschienenen Werk "Dialektik der Aufklärung" beschreiben. Es geht darin um die vereinheitlichende und anpassende Wirkung von Massenmedientechnologien (Film, Radio, Fernsehen). Sie konnten dabei damals die Wirkung des Fernsehens nur ansatzweise einschätzen, weil es noch in der Anfangsphase war.
Sie beschreiben ein System, das ständig angebliche Neuerungen produziert, die aber nur Modeerscheinungen sind, in Wirklichkeit aber auf der Stelle tritt und jeden echten Fortschritt nicht nur unmöglich sondern undenkbar machen will. Das System verwaltet und reproduziert sich selbst und schützt sich vor wirklich neuen Ideen, die potentiell gefährlich sein könnten, im Falle von "Brazil", also im fortgeschrittenen Stadium, durch Bürokratie und Papierkrieg, so daß jeder der protestiert entweder verzweifelt, sich lächerlich macht oder verdächtig wird.
An die Stelle von echter Identität tritt die Pseudo- Individualität, die aber den Konsumenten nur umso kalkulierbarer macht:
"Die rücksichtslose Einheit der Kulturindustrie bezeugt die heraufziehende der Politik. Emphatische Differenzierungen wie die von A- und B- Filmen oder von Geschichten in Magazinen verschiedener Preislagen gehen nicht sowohl aus der Sache hervor, als daß sie der Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten dienen. Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert. Jeder soll sich gleichsam spontan seinem vorweg durch Indizien bestimmten "level" gemäß verhalten und nach der Kategorie des Massenprodukts greifen, die für seinen Typ fabriziert ist. Die Konsumenten werden als statistisches Material auf der Landkarte der Forschungsstellen, die von denen der Propaganda nicht mehr zu unterscheiden sind, in Einkommensgruppen, in rote, grüne und blaue Felder, aufgeteilt." (S. 144 Dialektik der Aufklärung Ges. Schriften Bd 3 2. Auflage Frankfurt 1984)
Der Mensch wird zur Nummer, die Identität wird in Daten umgewandelt. Überall zeigt sich der Zwang zur Konformität, zum Beispiel will der Kellner beim Essen im Restaurant Sams Bestellung nicht entgegennehmen, weil er statt der Nummer des Gerichts den Namen nennt; Menschen werden von Ministeriumsmitarbeitern als Ware behandelt ("Dies ist die Quittung für Ihren Mann" "Die checken das alles im Depot") oder als programmierbare Maschine ("Er ist ein Versuchsmodell"). Das Thema plastische Chirurgie zieht sich durch den Film, weil Sams Mutter und ihr Freundinnenkreis sich zunehmend zur Bekämpfung der Alterserscheinungen, oder auch als eine Art Gesellschaftsspiel, kosmetischen Operationen unterziehen, Äußerlichkeit und Schauspielerei werden wichtiger als Identität.
Der Mensch soll sich machtlos und als Sache oder Nummer fühlen, um berechenbar zu sein.
Das System rechtfertigt sein Weiterbestehen, obwohl es weder echten Fortschritt noch einen besseren Lebensstandard ermöglicht, durch Pseudo-Terrorismus, überall warnen Plakate vor Feinden des Systems, von denen aber kaum jemand eine realistische Vorstellung hat. Das ermöglicht Kontrolle und Überwachung, die nicht in Frage gestellt werden.
Anfangs flüchtet Sam noch in Träume von Freiheit, eine Art comicmäßiger Vorstellung von romantischer Liebe und von Natur, die Naturphantasie taucht auch am Schluß des Films wieder auf. Die Natur scheint für den Wunsch nach etwas Heilem, durch die kranke Gesellschaft noch nicht Berührtem zu stehen. Dazu Adorno und Horckheimer: "Natur wird dadurch, daß der gesellschaftliche Herrschaftsmechanismus sie als heilsamen Gegensatz zur Gesellschaft erfaßt, in die unheilbare gerade hineingezogen und verschachert." (S.171 a.a.O.)
In Brazil wird ein fortgeschrittenes Stadium der Kulturindustrie dargestellt: Die Produzenten der Massenkultur haben sich quasi selbst überflüssig gemacht, sie spielen keine wichtige Rolle mehr, der Prozess hat sich verselbständigt, visualisiert zum Beispiel durch eine Wand mit vielen Bildschirmen am Eingang des Informationsministeriums, auf allen ist dasselbe Bild zu sehen.
In der in Brazil dargestellten Welt "irgenwo im 20.Jahrhundert" (mit dieser Zeitangabe beginnt der Film) hat der technische Fortschritt nicht zu einer Verbesserung der Lebensqualität geführt, weder im privaten noch im öffentlichen Bereich. Stattdessen ist eine monströse Schläuche- und Röhren- Technologie entstanden, die fast ein Eigenleben entwickelt, es gibt eine Szene in Sams Appartment, in der die Heizungsanlage sich wie eine Art Tier der Reparatur widersetzt, mit sich sträubenden Schläuchen und unheimlichen Geräuschen, bekämpft von Robert de Niro als anarchistischem Heizungsmonteur Tuttle.
 
3. Mythologisches
Sam Lowry kämpft auch, in seiner Phantasie, gegen das System, von dem er selbst ein Teil ist, und damit auch gegen sich selbst. Es gibt eine Traumszene, in der Sam mit einem Samurai kämpft, der Samurai ist laut Regisseur Terry Gilliam ein Wortspiel: Sam-or-I. Nach dem Kampf öffnet sich die Maske der eisernen Rüstung des Samurai, und Sam erkennt darunter sein eigenes Gesicht. Der Samurai wirkt aber nicht sehr menschlich sondern erinnert teilweise an eine Maschine, teilweise an einen Fabelriesen und teilweise an ein Reptil, es geht also um das alte Motiv aus der Mythologie, den Drachenkampf. Ein Ritter mit Lanze kämpft gegen ein feuerspeiendes Ungeheuer. Siegfried badete in Drachenblut. Schon in der Antike wurden die Hydra und andere Untiere von Helden geköpft. Sam entwickelt sich in seinen Träumen zu einer ein wenig komischen Version eines ritterlichen Helden. In der westlichen Kultur sind Drachen meist feindselig, in der östlichen (vor allem chinesischen) Sagenwelt ist das nicht so, dort steht der Drache oft für kosmische Ordnung und Weisheit. Auf jeden Fall muss aber der Drache mit dem Unbewußten in Verbindung gebracht werden, und auch das Motiv des Kampfes gegen sich selbst scheint nicht unbekannt zu sein. C.G. Jung beschreibt in einem Brief die Zeichnung eines Schlüsselloch-Beschlags aus dem Jahr 1690: "Es ist eine Art von Ritter St. Georg, bei dem aber der untere Teil ein Drache ist. Eine durchaus ungewöhnliche Darstellung! Es ist, wie wenn darin das Bewußtsein ausgedrückt wäre, daß der Drache die untere Hälfte des Menschen ist, was in Tat und Wahrheit ja auch der Fall ist. Man kann daher dieses Bild gut als eine Darstellung des innern Konfliktes auffassen oder auch als das Gegenteil, nämlich als einen Ausdruck der Tatsache, daß Drache und Held eigentlich zusammengehören und eins sind." (C.G.Jung, Briefe, Zweiter Band, Olten 1972, S.112)
So hat Terry Gilliams Umgang mit mythologischen Motiven oft gleichzeitig mit mehr oder weniger schwarzem Humor, vielleicht auch beeinflusst durch seine Vergangenheit als Monty-Python-Mitglied, und auch mit ernsthaften Hintergründen und Erscheinungen der menschlichen Kultur zu tun.