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Brief über ein Gemälde - R.B. Kitaj, AN EARLY EUROPE, 1964, Öl auf Leinwand. 152,4 x 213,4 cm

Bilder können mich verfolgen wie Schatten. Sie beschäftigen die Augen und tauchen wie Unterwassertiere immer wieder an die Oberfläche des Bewußtseins. Gespeichert im Gedächtnis, sind sie beteiligt an den Formen des Denkens und Handelns. André Malreaux nennt die permanente Präsenz von Bildern in uns das "imaginäre Museum".

Die Kunst R.B. Kitajs nimmt in meinem Museum eine Sonderstellung ein. Als in meiner Studienzeit der abstrakte Expressionismus der amerikanischen Künstler die Szene beherrschte, abgelöst durch den rigiden Kontrapunkt der Pop Art, als der Gegenstand nicht mehr tragfähig schien und als Alternative nur noch die bildnerische Ausbeutung der Warenwelt zur Debatte stand, erreichte die "School of London" mit Francis Bacon, David Hockney, Lucian Freud und R.B. Kitaj eine andere. eine psychologisch tiefere Dimension, die sich die sichtbare Welt der Räume und Figuren des eigenen Erlebens auch mit Rückgriffen auf überlieferte Bilder und Symbole aneignet. Das imaginäre Museum wird kreativ.

Eine wesentliche Rolle bei diesem Prozeß spielt die Fotografie, die Verfügbarkeit von Bildern und Fragmenten im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit nicht nur des Kunstwerks, wie Walter Benjamin darstellt, sondern ebenso realer Szenen und Ereignisse. Das Museum verwandelt sich in eine Bildbandbibliothek, weiter in eine Diathek und zuletzt in eine elektronische Datei, jederzeit abzurufen und in immer neuen Kombinationen verfügbar. Sein entsprechender Ausdruck ist die Montage und die Variation im Austausch von Farben, Flächen, Konturen und Räumen, heute technisch verkörpert durch den Computer und seine Programme zur Bildspeicherung und Bildverarbeitung.

In diese Richtung weist auch die Kunst Kitajs. Sein Bild "An Early Europe" sitzt seit vielen Jahren als Dia in meinem Magazin von Beispielen der wechselseitigen Durchdringung von Fotografie und Malerei. Von allen dort zusammengetragenen Dokumenten dieser wilden Ehe in den Künsten ist es das sperrigste. Jedesmal, wenn ich es in einem Seminar vorstelle, zeigt es mir andere Seiten. Einige davon sind so unheimlich, daß ich es bei Andeutungen bewenden lasse, um den Zuhörern diese Vieldeutigkeit und Rätselhaftigkeit zu erhalten und damit ihr eigenes Gedankenspiel. Ein Bild, und schon gar ein solches, ist kein Rebus, das eine eindeutige Lösung erlaubt und damit als entschlüsselt, als entzaubert betrachtet werden kann.

"Meine Bilder sind klüger als ich", sagt der kluge Maler Gerhard Richter, und klug ist K.B. Kitaj auch. Seinem Werk "An Early Europe" (1964) hat er uns anscheinend einen Schlüssel mitgegeben. Rechts unten befindet sich eine rot umfaßte Fotografie. Sie gibt einen Ausschnitt einer Skulptur wieder, welche drei nackte Frauen in zärtlicher, sanfter, schwesterlich erscheinender Umarmung darstellt. Die Körperformen sind weich und füllig, dabei fast kindlich noch, "Babyspeck", würde man heute konstatieren.Die Hände sinken sanft ein in dem weichen Fleisch. Die Frisuren sind antiken Vorbildern nachempfunden, wie sie zur Zeit der Entstehung dieses Werks von Canova (1815/17) auch in seiner Gegenwart Mode waren. Die drei Grazien bilden ein beliebtes Thema dieser Zeit, das es erlaubt, den unbestimmten erotischen Reiz junger Frauen in einer intimen körperlichen Kommunikation mit einem homoerotischen Anflug der nicht nur kunstverständigen Betrachtung auch männlicher Augen auszusetzen. Eine sanfte und ein wenig pikante Vorlage.

Es sieht so aus, als hätten wir es mit einem klassischen Thema und seiner Variation durch den Maler zu tun. Das Prinzip des Ausschnitts, welches ein der Fotografie eigentümliches Gestaltungsmittel ist, wird von Kitaj deutlich als Bildmittel eingesetzt, indem die rechteckige Begrenzung der Fotografie noch einmal rot umzeichnet ist und dieses Umrahmungsmotiv an vier verschiedenen Stellen auf der Bildfläche in den Farben violett, schwarz, orange und blau wiederholt. Die Ausschnitte sind enger gegriffen als bei dem Foto. Sie zeigen und betonen damit in zwei Fällen, violett und blau, die auf dem Körper der jeweils anderen Frau aufliegenden Hände. Im dritten Fall umfassen sie mit schwarzer Farbe einen Kopf. Über den schwarzen Kopfrahmen sieht man aufgebrochen, sich verzweigend ein Rahmengebilde, das in ein Liniengerüst übergeht, welches wie ein Klebestreifen andere Bildteile überzieht, die zugleich Körperteile sind. Ihre Farbe, orange, legt die Assoziation Heftpflaster nahe. Sie tauchen in gelber Farbe am Hals der mittleren, größeren Mädchengestalt wieder auf und halten dort anscheinend eine weiße Halsumwicklung zusammen. In dieser Verbindung wirkt beides wie ein medizinischer Verband, wie die Schutzhülle um eine Verletzung. Von den zart und plastisch durchgeformten Körpern der Vorlage hat der Maler die Konturen übernommen und ihre fließenden Formen noch weicher gestaltet. Im Gegensatz dazu ist jedoch die Plastizität vollständig zurückgenommen und durch flächig aufgetragene Farbe ersetzt. Nur die mittlere Person hat annähernd die Körperfarbe einer weißen Frau, die linke ist schwarz wiedergegeben mit roten Haaren, die wohl eher einen Turban darstellen. Die rechte Gestalt erscheint rot in Schulter und Arm, ihr Körper orange bis gelb. In dieser Flächigkeit wirken die Wesen wie collagiert, wie ausgerissen aus farbigen Papieren. Auch der Kopf der mittleren Frau wird durch eine Art Turban mit Perlenmuster geschmückt. Aus den griechisch nachempfundenen, klassizistischen Figuren sind orientalische Wesen geworden, die sich zu streicheln und zu trösten scheinen.

Der Eindruck des Orientalischen bekommt durch den Kopf der rechten Figur, welcher bedeutungsvoll schwarz eingefaßt ist, eine unübersehbare Bestätigung. Er trägt ein arabisches Kopftuch, eine deutlich große und für die zarte Gestalt zu große Nase und außerdem einen Bart. Offenbar hat sich ein Männerkopf, wie von einem Scheich, dazwischen geschoben und den Kopf der rechten Grazie ersetzt. Die Szene verliert den zarten Hauch großbürgerlicher Erotik des 19.Jahrhunderts, sie wird archaisch, unheimlich und direkt. Nun ist es offenbar nicht mehr die Hand eines Mädchens, welche die Brust der mittleren Frau leicht einsinkend streichelt, es ist die gröbere, blau dargestellte Hand eines Mannes, die flächig aufsitzt. Anders, als auf der fotografischen Vorlage, welche die Oberkörper zeigt, sind die drei Figuren in der Malerei bis zu den Hüften wiedergegeben, wobei die mittlere Frau zu sitzen scheint, dem Betrachter und dem Maler zugewandt, mit gespreizten Schenkeln. Der Hintergrund des durchgängig flächenhaft gestalteten Bildes deutet durch seine dunkle, braunrote Farbe einen Innenraum an, der sich an der rechten oberen Bildseite einem perspektivisch wiedergegebenen Fenster öffnet, durch das man in eine Art Wüstenlandschaft blickt, in der zwei kleine schwarze, mit Pinselschrift hingetuschte Figuren auseinanderlaufen. Den Horizont schließt eine ebenso in "chinesischer Technik" gegebene Bergkette ab. Aus dem Fenster "ins Freie" strebt eine, die Szene des Innenraumes gebückt fliehende, rot-violett und flächig gehaltene Person, die sich an den Kopf faßt. Das ist einiges von dem, was das Bild als Bild mir erzählt. Ich meine, bis dahin kann es keine wesentlich widersprechenden Beobachtungen geben. Das ist ablesbarer Bildbestand.

Nun hat jeder von uns nicht nur ein imaginäres Museum im Kopf. Es gibt darüber hinaus auch die imaginäre Bibliothek und das eigene Erleben in der jeweils eigenen Zeit. An diesem Punkt beginnt ein Bild wie das vorliegende Gedanken, Geschichten, Assoziationen anzustoßen, die mit ihm ursächlich verbunden, aber nicht unbedingt an ihm selbst zu belegen sind.

Aus dem sehr genauen und detailreich vorgetragenen Buch von Martin Roman Deppner über Kitajs Kunst "Zeichen und Bildwanderung" weiß ich mehr über diesen Künstler. Er hat mich immer schon fasziniert. Martin Deppner war vor Jahren ein Student von mir. Heute sind wir noch immer in freundschaftlichem Kontakt. Zwei Ausstellungen von mir hat er eingeführt und hat dabei auch auf die Kunst der "School of London" hingewiesen. Es gab also für mich mindestens drei Gründe, sein Buch gründlicher zu lesen als andere auch interessante Werke.

Kitaj ist Jude, seiner Kultur und der Geschichte seines Volkes auch in seinem Werk eng verbunden. Dialog und Wanderung zwischen den Welten ist sein großes Thema. Entsprechend hat auch Martin Deppner die Schriften von Walter Benjamin, Aby Warburg und die Dichtungen und ästhetischen Texte von Ezra Pound studiert. Pound betont "das enorme Fassungsvermögen des Gehirns als Erzeuger und Hersteller von Denkbildern (images)"(nach Eva Hesse, S. 325). Seine Poetik gibt einer Richtung in der Literatur der Moderne den Impuls, dem Imaginismus. Hier werden Worte wie Dinge zusammengefügt, welche Bilder im Kopf hervorrufen. Gegenwart und Geschichte, Technik und Mythos sind präsent im dichterischen Werk etwa seiner Pisan Cantos. Der Imagismus kann verstanden werden als eine literarische Entsprechung der Montagetechnik der papiers collèes Picassos oder der Filmmontage des Sergej Eisenstein. "Die Poesie, sagt Pound,"soll zwischen dem Leser und den Buchseiten entstehen." ( nach Eva Hesse, S. 82) "Ein image ist etwas,das einen intellektuellen und emotianalen Komplex innerhalb eines Augenblicks darstellt....(es) erzeugt ein Gefühl plötzlicher Befreiung und Lösung aus zeitlichen und räumlichen Schranken"(nach Eva Hesse S. 46). Pound wendet sich aber auch gegen die Auffassung des von der Vernunft abstrahierten Bildes und gegen die "populäre Ächtung der Interpretationsversuche an der modernen Kunst." (Pound nach Eva Hesse S. 51) Dennoch besteht er auf einer gewissen Unauflöslichkeit der Inhalte. Die Bestimmung des Bildnenners, überläßt nach Eva Hesse, der wichtigsten Kennerin des Poundschen Werkes, der Dichter dem Leser. Es ist dies die Methode einer nicht zu Ende geführten Kommunikation, die den letzten logischen Schritt offen läßt(Hesse S. 81 ff.). Sie dient der Absicht, im Leser eine analoge Sensibilität zu wecken. "Der ernsthafte Künstler muß so in der Schwebe bleiben wie die Natur selbst" (Pound nach Eva Hesse S. 60). Damit wird der Leser von Texten, der Betrachter von Bildern zum Partner des Künstlers, der am offenen Schaffensprozeß beteiligt wird. Die Bilder, die images, arbeiten in seinem Kopf weiter und erzeugen neue Bildfelder und Verknüpfungen, von welchen die Werke Anstoß, Ursache, nicht jedoch eine lösbare Rätselaufgabe darstellen.

Der Umgang mit Kunst wird in diesem Werkverständnis ein schöpferischer, nicht nur rezipierender oder übersetzender Prozeß vorgefertigter Resultate. Zugleich kommt der subjektiven Auffassung, der persönlichen Struktur des Menschen, der sich mit den Werken auseinandersetzt, eine sinn- und ausdruckstiftende Bedeutung zu. Die alte, viele Unterrichtsstunden zerquälende Fragestellung, was der Künstler sich wohl gedacht habe, wird damit erweitert und ersetzt durch die viel wesentlichere und nachprüfbare Frage nach der Wirkung, nach dem, was das Kunstwerk im Betrachter bewegt. Der amerikanische Fotograf und Lehrer Minor White ließ seine Studenten zu vorgelegten Fotografien assoziieren. Er verstand künstlerische Lehre als Dialog mit dem Bild und als Entwicklung der eigenen Person und seiner Kreativität. Pounds Methodik hat also auch in die Lehre der Fotografie in den Staaten Eingang gefunden.

Kitajs Bild kann in diesem Kontext neu gebraucht, wenn auch nicht einfach "verstanden" werden. Martin Deppner, der den Künstler in persönlichen Gesprächen im Rahmen seiner Arbeit kennengelernt hat, spricht in diesem Zusammenhang von Zeichenunschärfe und Verunklärung, welche den Sinn ebenso verhüllen wie die Antwort enthalten (Deppner S, 131 ff.). "So wie er (Kitaj) beispielsweise ein unmittelbar wiedererkennbares Emblem wie die drei Grazien prismatisch aufbricht und zugleich in ein Verweisungsgeflecht aus zahlreichen der Kunst und der Literatur entnommenen Details "vernetzt". Der Betrachter hat in der Tat zuviel, wonach er greifen könnte." (Deppner S. 159) Weiter bemerkt Deppner, daß in dem Bild "An Early Europe" die grundlegenden emblematischen Zeichen wie die drei Grazien unscharf werden und daß sich dadurch ihr Sinn verändert. Es entsteht ein oszillierender "image"-Effekt, der verrätselt und zugleich Denkraum schafft. (S. 133)

Die drei Frauen, Grazien oder im Griechischen auch Chariten genannt, sind nach alter Überlieferung Töchter des Zeus, gezeugt mit Euronome. Diese Schwestern, Pasithea, Kale und Euphrosyne tauchen wieder auf in einem archaischen Schönheitswettbewerb, den sie mit Aphrodite bestreiten und in welchem der blinde Seher Teiresias Kale den Preis zuspricht. Die wütende Aphrodite wird ihn daraufhin in eine alte Frau verwandeln (Ranke-Graves S. 9). Der blinde Herr muß wohl auch die Hände verwenden, um die Schönheit der Frauen zu ertasten, mit der kalten, blauen Greisenhand am Busen des geschmückten Körpers in der Mitte vielleicht. Das eingeblendete Bild vom Scheich mit den blicklosen, wie mit einer Brille umrahmten Augen mag dies andeuten. Tatsächlich, wenn man bei Sagenüberlieferungen von Tatsachen überhaupt sprechen kann, wird Teiresias erst später von der wütenden Hera geblendet, weil er aufgrund eigener Erfahrung einen Streit zwischen ihr und Zeus zu schlichten sucht, indem er aus eigener Erfahrung behauptet, dass die Frauen durch die Liebesverbindung dreimal mehr Lust empfänden als die Männer. Kale nämlich hat ihn mitgenommen nach Kreta, ihm ein liebliches Lockenhaupt verpaßt und ihn offenbar auch weiterhin weiblich belohnt. Das vorgeschichtliche Europa, heißt an es weiterhin bei Robert Ranke-Graves, kennt keine männlichen Götter. Die Dreizahl, welche in vielen Mythen, später auch im Christlichen Denken, eine beherrschende Rolle spielt, hätte danach ihren Ursprung im weiblichen Zyklus, in der Natur abgebildet in den Phasen des Mondes, zunehmender Mond, Vollmond, abnehmender Mond, welche auch die Lebensabschnitte der großen Göttin, der "Matriarchin", symbolisieren, Mädchen, Nymphe und Altes Weib. Die "Große Göttin", welche als unsterblich angesehen wurde, verkörpert alle drei Gestaltungen in einem Leib, die früheste Form einer Dreifaltigkeit (Ranke-Graves S.13).

Die Vernetzungen sind vielschichtig, sobald man den Ursprung der von Kitaj zitierten Symbolfiguren verfolgt. "An Early Europe", dieser Bildtitel wird mit Bedacht gewählt sein und kann auf diese matriarchalische Herkunft unserer Gesellschaft anspielen. Ebenso ist der von Hera in böser Absicht praktizierte Geschlechtertausch in dem Bild durch Kitajs Vermischung von Kopf und Körper bildhaft geworden, ein image, jedoch in Umkehrung der Richtung. Kitaj hat in anderen Bildern wie seinem Selbstbildnis als Frau oder dem Porträt von Aby Warburg als Mänade dieses Thema behandelt.

Verläßt man die griechische Mythologie und begibt sich in den Bereich der jüdisch-christlichen Überlieferung, werden die Bilder im Kopf noch eindringlicher. Sie gewinnen einen weiteren Zug des Unheimlichen und Hintergründigen. Wir wissen, daß der Künstler in seinem Werk immer wieder das jüdische Schicksal und die jüdisch-europäische Verknüpfung und Tragödie behandelt hat. Der Seher Teiresias, wenn er es denn ist und nicht zugleich ein anderer- vielleicht in Andeutung der Künstler selbst, trägt einen arabischen Kopfschutz. Dies deutet nicht nach Griechenland sondern nach Palästina. Ebenso sind die Frauen deutlich in unterschiedlichen Hautfarben wiedergegeben, welche auch die Rassen der Erde verkörpern können. Sie sind befangen in inniger aber auch schmerzlicher Umarmung. Wie ein Bild von Urvater Abraham schiebt sich der Männerkopf in diese intime Szene. Der geöffnete, aber nicht in der Malerei ausgeführte Schoß gibt das Zeichen für Empfängnis und Mutterschaft. Auch das frühe Europa und damit ebenso das vorgeschichtliche Griechenland hat nach biblischer Überlieferung seinen Ursprung im nahen Orient.

Nun gibt es neben der Entstehung der Rassen, vertreten durch die Brüder Sem, Ham und Japhet noch eine andere Überlieferung, deren Symbolik und Tragik die Entstehung des frühen Europa beschattet, ein Motiv aus biblischer Überlieferung, das auch in der Kunstgeschichte wiederholt auftaucht, der Inzest, aus der Logik der Genesis, der Isolation der nomadisierenden Familien, der wiederholten Vernichtung ganzer Völker, sogar der Menschheit mit Ausnahme der Familie Noas ein unvermeidliches und daher läßliches Vergehen. Nach der Vernichtung von Sodom und Gomorrha durch Feuer, das vom Himmel fällt, und das die Frau des Lot aufgrund ihrer Neugier und Rücksicht nicht überlebt, wandert der alte Mann mit seinen zwei Töchtern nach Zoar und bewohnt dort in Furcht, so heißt es, eine Höhle. Die Töchter beschließen, da kein anderer Mann im Lande ist, ihren Vater mit Wein betrunken zu machen, um sich dann von ihm schwängern zu lassen. Die dunkle Fläche des Bildgrundes rückt Lots Höhle ins imaginäre Museum. Aus den drei Grazien der Charitenüberlieferung sind nun zwei Schwestern geworden und ein alter Mann. Die Dominanz des Weiblichen ist unübersehbar, ebenso die orientalische Anmutung von Kopfschmuck und Gestik. Zugleich suggeriert das Bild eine schicksalhafte, ritualisierte Atmosphäre von Sexualität und Empfängnis. Das Entsetzen über das Unvermeidliche scheint ausgedrückt durch die Figur am rechten Bildrand, die mit vor das Gesicht geschlagenen Händen aus dem Fenster ins Freie stürzt, eine Flucht ins frühe, noch wüstenhafte Europa. Die Bilder im Bild stoßen immer neue Bilder im Kopf an, im Kopf des Betrachters, im Gedankenspiel des Malers. Sein Kopf in der orientalischen Verkleidung schiebt sich , schmuggelt sich hinein in die zärtliche Szene der Umarmung dreier Frauen. Sehnsucht nach Teilnahme steckt auch darin, Erotik der friedlichen Umarmung ohne Kampf zugleich mit einer weißen und einer schwarzen Schwester.

Die Gedanken, Projektionen und Wünsche verlassen den festen Malgrund. Zurück bleibt das Bild als Bild, eine flächenhaft farbige Gestaltung, von Linien durchzogen. Die weichen Formen spielen wie Wellen miteinander. Sogar in den Linken blau gegebenen Rahmen am unteren Rand verschafft sich das Wellenmotiv Geltung. Die dunkle Fläche am rechten unteren Bildrand wird ausbalanciert durch die andere Dunkelhelt, welche den Körper der Frau auf der linken Bildseite wiedergibt. In sie hinein sind Linien geritzt, die Arm und Hals bezeichnen. Linien durchziehen wie Rinnsale die Farbwellenfläche des Bildes. Sie erzeugen wie von selbst, wie auslaufende Farbe, die Figur, welche aus dem Bild flieht. Sie muß dort sein, als Antwort auf den gewinkelten Arm. In keiner mythologischen Quelle scheint sie begründet, sie entsteht aus dem Wachstum des Bildes und verbindet Innenraum und Außenraum. Komposition und Bedeutung sind ebenso vieldeutig verschränkt wie die ikonografisch ablesbaren aber mehrdeutigen Motive. Schwarz ist vielleicht die linke Dame nur, weil an dieser Stelle des Bildes eine Dunkelheit unbedingt erforderlich war. Färbt man sie versuchsweise rot, taumelt das Bild. Die Proportionen des Bildrahmens um das Foto wiederholen sich entsprechend stark vergrößert in den Außenmaßen des ganzen Bildes. Es ist tatsächlich also eine Vergrößerung der vorgegebenen Fotografie ins ausgedehnt Flächenhafte, Farbige und eine Vergrößerung der Dimensionen in Zeit und Raum. Kitaj schafft einen vielfach verschachtelten , zeichenhaft konstruierten Denkraum. Die Bilder, Zeiten und Mythen überlagern sich, sie oszillieren. Es sind traumatische Konstruktionen, deren Motive zwischen den Räumen und Zeiten wandern in ständiger Veränderung und Variation, den Mythen vergleichbar, deren Motive sich in zahllosen Geschichten wiederfinden, spiegeln und brechen. Nach C.G.Jung könnten es Archetypen sein, Bilder, die das kollektive Unbewußte schafft, um Kräfte und Nöte zu gestalten, von welchen es getrieben wird. Bildende Kunst, Mythos und Dichtung wirken mit bei diesem Hexentanz der Bilder als Instrumente der Vergegenständlichung des Ungesehenen und Unerhörten.

Herford, 11.6.1993

Jörg Boström

 

Literatur

Martin Roman Deppner, Zeichen und Bildwanderung, Zum Ausdruck des "Nicht-Seßhaften" im Werk R.B. Kitajs, Münster, 1992

Ezra Pound, ABC des Lesens, Frankfurt, 1960

Eva Hesse, Ezra Pound, München, 1978

Robert Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg, 1960

Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift, New York, 1871

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt, 1963

Anmerkung : In einem Aufsatz zum Thema "Jewish School und London Diaspora " in der Zeitschrift Babylon, Beiträge zur jüdischen Gegenwart;Heft 12/1993. S. 54 geht Deppner noch einmal auf das Bild "An Early Europe" ein. Den Text habe ich nach Abschluß meines Briefes gelesen. Er bestätigt den offenen Interpretationsansatz noch einmal. "Die Geschichte Europas ist nicht von den Überlagerungen orientalischer Kultur zu trennen. Das Netzwerk, in das Kitaj seine Bildwelten spannt, läßt viele Wege offen."