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Bilder aus Mecklenburg
 
 

Wenn Augen Hände hätten, wären dies die geeigneten Organe zum Abtasten dieser Bilder. Es sind zunächst Fotografien. Der Zerfall gibt aus dem Mauerwerk die innere Struktur, die nervöse Oberfläche unter der Haut den tastenden Blicken preis. Hier spielen tiefsitzende Kindheitsmuster aus den Trümmerspielstätten Thüringens und des Ruhrgebiets hinein in die Findung der Bilder. Aus den Trümmern der alten und der Erwachsenenwelt entwickelte sich das Abenteuer des eigenen Lebens. Die Gutshäuser in Mecklenburg zerfallen als Symbole einer verlorenen gesellschaftlichen Gruppe des feudalen Landlebens. Nur ihre Umgestaltung, ihre Aufnahme in neue Funktionen und ihr Umgang mit abenteuernden Menschengruppen, kulturellen Initiativen gibt ihnen eine Überlebenchance. Die Bilder zeigen so etwas wie die Würde des Untergangs in den letzten Jahren vor dem Zusammenstürzen oder dem neuen Leben. "Sterbende Häuser" . Fotografien dazu waren zu sehn in der Ausstellung 4 Wirklichkeiten, Schlossgalerie Quedlinburg.
 
 
 
 

Das Land Mecklenburg : wenige Menschen und viel Raum für Licht und Wetter, Pflanzen und Tiere, für den Blick zum durchwachsenen Horizont, und immer wieder die ausgedehnten, durchfurchten Flächen einer von Pflanzen bestimmten Erde. Die Bildstruktur in der Malerei entwickelt sich wie ein biologischer Prozeß. Die Leinwand, selbst ein pflanzliches Gesichts- und Arbeitsfeld, wird von Algenmaterialien und seinen Formen überwuchert. Aus den wogenden Formen bilden sich neue Wesen, als wollte sich die aus dem Wasser stammende Schöpfung unter den Händen wiederholen. Aus Ton die ersten Menschen, aus Schlamm, aus wuchernden Teich- und Wasserpflanzenformationen hier. Der Malvorgang wird zum genetischen Prozeß, embryonal steigen die Formteile wie neue Organismen empor. Das archaische Unbewußte antwortet mit urtümlichen Erinnerungen und mythischen Träumen. Ausgeblendet bleibt der apparative Alltag einer sekundären und tertiären Zivilisation. Hier spielt mehr die Kunst der Höhlen und Grotten, der heimlichen und unheimlichen Bildtriebe hinein, des Zeugens, Versinkens und Schwimmens im Strudel der hingerissenen Selbstaufgabe, als die bisher ebenso fasziniert wahrgenommene Oberfläche des technisch und organisch Gegebenen, weniger Arbeitswelt als Lebenswelt und Entstehungsprozeß von Leben. Geburt der Vögel, Urformen der Frauen, Landschaftsformen, die Menschenformen hervorbringen, Riesinnen aus Traum und Tang, die ersten wandernden Tiere, Menschenpaare, die sich im Boden verlieren und finden, Metamorphosen zwischen Sucht und Sage, das Zurückverwandeln in die Pflanzenwelt wie bei Daphne, die sich von dem Gott gejagt, ihm nicht öffnen wollte, aus der Tiefe des Brunnens das krötenhafte Wassertier, das zur menschlichen Figur gerinnt. Die Stiere sind unterwegs unter der Oberfläche, aus Erde und Pflanzengeschlinge bauen sich tierische Häute und Glieder auf. Schon morgen beginnt ein neuer Schöpfungstag im living theatre permanenter Malerei. 
 
 
 
 
 
 

Aus dem Wasser und seinen Farben mischen sich verfliessend neue Formen, die der mecklenburger Landschaft abgesehen sind. Sie erscheinen wie Kopien, sind doch selbständig entstanden und wuchern weiter in den verfliessenden Horizonten, wo Farbverbindungen sich verzweigen wie Bäume und Verdünnungen sich wölben zu Wolkenformationen. Räume bilden sich durch langezogene, nasse horizontale Pinselspuren und Buschreihen durch dunkel getupfte Nässe. Da ich hier fast nur Landschaften sehe um mich, geraten sie zwnghaft auf die Bildflächen und breiten sich ungehemmt aus. 

 
 

 
 

 

Wenn Menschen auftauchen, schauen sie misstrauisch und mürrisch auf mich und den Betrachter, der sich rechtfertigen sollte, was er hier suche und betreibe.Auf den Leinwänden und auf Papier entwickeln sich als Reflex auf das, was ich sehe, leere Landschaften und nun doch noch ein etwas unangenehmes Bild von Menschen, die den Betrachter wiederum mürrisch von oben betrachten. Fotostudien vom Besuch Gerhard Schroeders in Waren liegen darunter oder davor. Sie gucken, ob mein Leitbild stimmt, der immer etwas daneben lag und liegt. Vielleicht liebe ich doch nicht die Menschen, jedenfalls die allerwenigsten. Zum Glück habe ich dazu immer wieder welche gefunden.
 
 
 
 
 
 

Lansen, 9.7.2001

Jörg Boström