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Rolf Sachsse Bilder gebrauchen. Am Ende der Photographie? Am 25. August 1967 endete ein Zeitalter für die Photographie, nur hat es damals keiner gemerkt: die erste farbige Eurovisions-Übertragung war eine der üblichen, plüschigen Shows. Doch durch sie wurde die flächendeckende Versorgung West-europas mit dem Fernsehen begonnen, das heute als primäre Nachrichtenquelle des größten Teils der Bevölkerung funktioniert. Nochmals: keiner hat es bemerkt - ich habe zehn Tage später eine Photographenlehre begonnen, und die war medienhistorisch verschenkte Zeit. Vier Jahre später - nunmehr Werbephotograph - saß ich in einer Konferenz über die Zukunft der audiovisuellen Medien, und dort sprach ein ARD-Gewaltiger davon, daß wir anfangs der neunziger Jahre kein Papier mehr brauchen würden. Denn wir hätten morgens unsere Zeitung samt Lokalteil auf dem Fernseh-Bildschirm. Falls der Mann sich noch daran erinnern will, kann er darüber genauso herzlich lachen wie ich. Für mich hatte der Vortrag Folgen: ich begann ein Studium der Kommunikations-forschung, schlug mich mit Summenformeln präsuppositiv angenommener Zeichenvorräte herum ("Was ich mir vorstelle, das Du gerade von mir denkst") und dachte über die Anwendung von Sprechakttheorien auf die Vermittlung visueller Botschaften nach. Weit bin ich damit nicht gekommen und finde mich zudem in bester Gesellschaft. Es ist kein Problem, darüber nachzudenken, wie wir abends beim Betreten unseres Hauses die gespeicherten Daten des Tages mit der Schuhsohle auf den heimischen Server übertragen oder ob wir mit einem Händedruck unter Geschäftspartnern elektronische Visitenkarten samt online-Bonitätsprüfung austauschen, mittels schwachstromfähiger Datenleitungen wiederum in die Schuhsohlen oder unter den Hemdkragen. Nicholas Negroponte beschert uns derartige Szenarien jeden Monat mit seiner wired-Kolumne neu. Doch es ist ein Problem, darüber nachzudenken, welches Wissen wir warum wo speichern wollen, wenn wir sowieso alles aus dem Netz bekommen können. Und da hat Mr. MediaLab bislang auch nur zur Lobpreisung des nun schon fünfhundert Jahre alten Buchs gefunden. Schließlich treibt ihn der gleiche nervus rerum um wie Millionen anderer Menschen auch: er will Geld, viel Geld verdienen. Für die Photographie und die elektronische Bildverarbeitung - ein denunziatorisches Wort, bezeichnet das Präfix 'ver' doch bereits die völlige Umformung des Folgenden - können ähnliche Szenarien problemlos hochgerechnet werden: Kleinbildkameras mit hybriden Rückteilen und hohen Speicherkapazitäten lassen schon bei der Belichtung erste Bearbeitungen in Farbe, Form und Funktion der Bilder zu - die schrecklichen Farben der Tapete vom Bundeskanzleramt harmonieren dann plötzlich mit den jahreszeitlich unterschiedlichen Blumensträußen, und die kobaltblauen Anzüge der chinesischen Besucher weichen einem dezenten preußisch-ultramarin (das wollten wir doch immer schon, oder?). In die Kamerasteuerung einprogrammierte Harmoniebedürfnisse produzieren von vornherein nur die Bilder, die wir sehen wollen, oder rechnen jede zufällige Exposition in gut gestaltete Kompositionen um. Vorzuwählen sind nun noch der Goldene Schnitt oder das klassische, ruhende Dreieck mit rechts leicht angehobener Spitze, wie für Madonnen seit dem 16. Jahrhundert üblich. Zutaten aller Art - von den Engelchen am unteren Bildrand über den schwungvoll beiseitegeschobenen Brokat-Theater-Vorhang zur Staffagefigur nach Caspar David Friedrich für Landschaften - sind im Speicher abrufbar und werden je nach Motiv von der Kamera selbst vorgeschlagen. Auch das Bild vom Teppich, der unsere Daten auf den Hausspeicher überträgt, paßt: vor fünfzehn Jahren mußte ein Schweizer Science-Fiction-Autor noch die reisenden Japaner abends auf der Toilette die entwickelten Filme ihres einoperierten dritten Auges aus dem Arschloch ziehen lassen, heute geht das wirklich eleganter, ohne daß sich am medialen Verhalten auch nur ein Jota geändert hätte. Oder vielleicht doch? Wenn überhaupt, dann läßt sich der Prozeß einer Veränderung im Bildgebrauch am besten durch den Vergleich zur Sprache beschreiben. Photographie als internationale Sprache - das war so ein Schlagwort, was in die Zeiten zwischen 1840 und 1970 paßte. Es war so falsch wie seine Grundannahme: es gibt keine internationale Sprache, es sei denn eine mit einer festgelegten Funktion. Das hatten sogar schon die Entwerfer von Esperanto begriffen, und diese Funktion hat heute weltweit das Englische übernommen. Doch gedichtet und dramatisiert wird weiterhin in allen Sprachen der Welt (auch im Englischen, natürlich); und für die Photographie ist das ähnlich. Wunderbar: also haben wir eine deutsche, eine italienische, eine litauische und eine französische Photographie? Jein! Als Kunst wie in Dichtung und Drama haben wir sie; als alltägliches Bild im Gebrauch von Erinnerung und Werbung, von Design und Dasein sind die Funktionen zu eng fixiert, als daß sich dort noch große Unterschiede festmachen ließen. Das war beileibe nicht immer so und vor allem einem raschen Wechsel der Moden und Sichten unterworfen. Als sich im Frühjahr 1946 sowjetische und amerikanische Besatzer an der österreichisch-ungarischen Grenze gegenüberlagen, entstanden Bilder der Erinnerung an die ruhige Zeit: bei den Amerikanern Aufnahmen von rauschenden Festen, schönen Frauen und lustigen Tieren, bei den Sowjets Denkmäler der eigenen Kraft und Macht in jedem Soldatenkörper und -antlitz. Für die Menschen beider Völker waren die Bilder jeweils die ganze Wahrheit ihres Daseins an der Grenze von Krieg und Frieden. Doch unterschiedlicher kann ihre Bildwelt desselben Gedankens nicht angenommen werden. Nur zwei Jahre vorher hatte Robert Capa sein berühmtes Bild der landenden Invasionstruppen vor Duinkerke aufgenommen: ein Fake. Bei der eigentlichen Landung waren ihm die Boote und Menschen nicht eindrucksvoll genug erschienen, also wiederholte er die Aufnahmen bei einem zweiten oder dritten Einsatz. Hier griff er zu einem Bildmittel, das die Herren Hoffmann und Goebbels in der Nazi-Propaganda ebenfalls nicht selten verwandten: er belichtete lang, zog die Kamera leicht mit und erhielt die verwischten Aufnahmen, deren Bild uns als Schaumgeburt der Freiheit auf europäischem Boden so authentisch vorkommt. Pure Propaganda ist das, hat nichts mit der Wahrhaftigkeit des photographischen Bildes zu tun und wurde so gedacht, bevor an Digital Imaging überhaupt zu denken war. Doch ging es Robert Capa und den vielen Bildermachern der Photographie bei allen Fälschungen um eines: das Schaffen neuer Sichtweisen, die Darstellung komplexer Inhalte durch bislang ungesehene Symbolketten, die Verdeutlichung der Kraft eines Augenblicks, mochte er real existieren oder nicht. Das Digital Imaging hat eine andere Zielrichtung, so fundamental anders, daß an ihr allein die Differenz zur herkömmlichen Photographie festgemacht werden kann: den Bildschirm-Arbeitern geht es um die Herstellung von Erinnerung. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Umkehrung des photographischen Blicks. Nicht mehr aus dem Kasten in die Welt wird gesehen, sondern die Welt wird auf den Bildschirm gespiegelt - und bearbeitet. Die Photographie produzierte und produziert Bilder der Erinnerung, deren weiterer Gebrauch erst die Basis für die Arbeit am Bildschirm schafft. Dies gilt technisch wie metaphorisch: die Zahl der Bilder ist unendlich groß geworden und die Möglichkeiten der Betrachter sind verhältnismäßig klein. Das Resultat läßt sich an vielen Stellen jetzt schon erahnen. Beispielsweise hat Ford Oxaals Software 'Mind Eye's View' - als künstlerische Installation in Miroslav Rogalas Installation 'Lover's Leap' zu bewundern - das Potential, die herkömmlichen Beziehungen zwischen Fernseh-Kamera und -Bildschirm umzudrehen. Zunächst ist dies eine rasend schnelle Bildverarbeitungs-Software, mit der in Echtzeit aus jedem beliebigen Fish-Eye-Photo oder _Video jede beliebige Perspektive, Einstellung oder Kamerafahrt heraus-geschnitten werden kann. Für die Fernseh-Übertragung bietet ein solches Programm ungeahnte Möglichkeiten. Kleine Fish-Eye-Video- oder TV-Kameras werden in der Mitte über Fußballfeldern, Straßenkreuzungen, Parlamentssälen oder anderen wichtigen Orten der Begegnung aufgehängt. Das von diesen Kameras ausgesendete Bild wird über zahllose Kanäle in Echtzeit an die Fernsehgeräte in jedem Wohnzimmer übertragen, wo die Benutzer sich mit dieser Software die Ausschnitte, Blickwinkel und Bewegungen herausholen, die sie gerade interessant und wichtig finden. Bei einem Fußballspiel ließe sich so das 'Mitgehen' der Kamera an einem Spieler festmachen; für Parlamentsübertragungen könnten die Abgeordneten der eigenen Wahl bevorzugt werden; oder die zugelieferten Bilder von Straßenkreuzungen werden mit einem Melder für Extrembewegungen, also Unfällen ausgerüstet und spielen diese Bilder ein, sobald sie sich ereignen - mit wenigen Millisekunden Verzögerung. Die kommenden Möglichkeiten des Pay-TV hinzugenommen, könnte sich durch dergleichen Technik - die heute komplett vorhanden ist! - das Medienverhalten einmal mehr umkrempeln. Keine Technologie wird auf dem Aktienmarkt heißer gehandelt als die Set-Top-Box, also jener Computer ohne Tastatur und Maus, der zukünftig integraler Bestandteil jeden Fernseh-Geräts sein wird. Was da drin ist und was sie leisten kann, ähnelt in Beschreibungen der Fachzeitschriften ziemlich genau dem Inhalt eines schwarzen Zylinders vor Beginn der großen Zauberer-Gala. Unwichtig sind die möglichen Komponenten zukünftiger Bildtechnologie gegenüber dem, was sie werden leisten können, müssen und dürfen. Die Fernseh-Zuschauer des frühen 21. Jahrhunderts werden jedenfalls nicht nur die Programme, die sie sehen wollen, in ganz anderer Weise aussuchen können als bisher, sondern sie werden auf die Bildform und den Zeitablauf Einfluß nehmen - wer aufs Klo muß, stoppt den Spielfilm (Video wird sowieso nicht mehr gekauft oder geliehen: was war das für eine schlechte Qualität all die Jahre!); wer bei einer Dokumentation nachhaken will, klinkt sich direkt zur Redaktion durch undsoweiter. Schöne neue Fernsehwelt. Was das für das Bildermachen bedeutet? Gar für die Photographie? Viel und doch nicht so viel. Jedensfalls ist die Situation rosiger, als das Szenario es vermuten ließe. Und das wissen alle die Photographen am besten, die von der Malerei gekommen sind - denn sie haben den medialen Abschwung bereits mehr oder minder elegant hinter sich gebracht. Und wer wie Jörg Boström oft genug zwischen den Medien hin und her gesprungen ist, dies auch noch auf einer unzeitgemäßen Basis wie einer Realismusdebatte après la lettre, den können derartige Bilder schon überhaupt nicht mehr schrecken. Die Sehweisen sind entdeckt, die weißen Flecken auf der Weltkarte verschwunden, das Auge mit Ultraschall supersonisch und infraspektral bewaffnet, selbst im All werden echte Entdeckungen rar. Das Schaffen neuer Bilder ist so unwichtig wie die Prägung neuer Worte: das Material der Literatur liegt vor, ebenso das der bildenden Kunst. Nun geht es um die Formulierung von Sätzen, Gedichten, Novellen und Romanen. In den Fluten heutiger Bilder kann sich nur orientieren, wer schon Bilder im Kopf hat, die ihn prägten: Bilder der Erinnerung. Sie sind der Grund, warum heute mehr Bücher denn je zuvor gelesen werden - allen Medientheorien zum Trotz. Denn in Büchern werden Bilder beschworen, die eine Erinnerung suggerieren, deren Realität verschwimmt. Das ist schön, doch Vorsicht ist geboten, denn nichts ist trügerischer als die Erinnerung. Haben wir diese oder jene Geschichte als Kind selbst erlebt? Oder kennen wir sie doch nur als Erzählung, als Filmausschnitt, als Bild im Album? Wenn es denn so ist, was ist dann mit den synästhetischen Effekten des Erinnerns? Können wir uns tatsächlich den Geruch einer Wiese zu Kindertagen ins Gedächtnis rufen? Oder brauchen wir nicht doch eine visuelle oder akustische, erzählte oder aufgezeichnete Stütze dazu? Was wir wissen über unser Gedächtnis, ist, daß es uns betrügt - mit Gerüchen und Geschmäcken, mit Bildern und Klängen. Der Harmonie einer schönen Erinnerung opfern wir alle Wahrheit. Das ist gut so, denn sonst könnte kaum jemand einen Krieg, ein Konzentrationslager, Folter und Mißbrauch überleben. Doch es hat auch seine problematischen Seiten, vor allem unter kulturkritischer Sicht. Denn die Entkoppelung von körperlicher Empfindung und informationeller Aufnahme schreitet unaufhaltsam voran. Und alle Mind Machines leisten immer noch ein Stückchen mehr für die Vertiefung der Kluft zwischen Dabeigewesensein und Erinnerung. Hier nun ist der Photographie endlich eine neue Aufgabe zugewachsen. Sie schafft die Illusion des Dabeigewesenseins, umso besser, je weniger geplant ein Bild in diesem Medium ist. Die vollautomatische Kamera registriert meine Bewegung auf dem Planeten, von Barbados bis ins Badezimmer - und ich kann an Bildern belegen, daß ich anwesend war. Photographie als ontologischer Daseinsnachweis: ohne Heidegger gibt es keine postmodernen Doppelcodierungen bildlicher Repräsentanz von Existenz. Doppelt wird die Existenz des photographischen Bildes in mehrfacher Hinsicht: es gibt eine 'Photographie nach der Photographie' auf medienkritischer Grundlage. Und es erscheint mir kaum verwunderlich, daß derzeit auf diesem Gebiet die besten Arbeiten kontinentaleuropäischen Ursprungs sind, denn dort ist der Ikonoklasmus zuhause. Wer immer seine Bilder mit Photoshop und Picture Publisher bearbeitet, beginnt mit dem Verstopfen von Löchern: Gesichter ohne Mund, Frauen ohne Vulva, Männer ohne Augen beherrschen die Ausstellungen. Der Medientransfer dient der Verhinderung von Kommunikation, nicht der Verbesserung. Oder? Apropos Medientransfer: wenn Jörg Boström in manchen Gemäldezyklen mittels Grisaille Photographien zitierte, dann war das keine blanke Phrase oder bloße Übertragung. Die Grisaille war der Rückseite von Altären vorbehalten, den Zeiten der Passion und des Fastens. Sie ist aber auch immer eine Vorstufe zum großen Ganzen gewesen, ein Erschrecken des Künstlers vor der möglichen Vollendung. Genauso vorläufig sind schwarzweiße Photographien - nicht Abstraktion von bunter Welt, sondern noch nicht ganze Form, Option auf individuelle Ergänzung. Doch es gibt das photographische Bild nach den Neuen Medien auch in einer anderen Weise, als Rückführung in private Schonräume. Die Bilder, die es nicht wert waren oder sind, publiziert zu werden, können nur noch zu Ikonen werden. Roland Barthes hat es in La chambre claire als wünschenswert deutlich beschrieben: das punktum ereilt ihn angesichts einer Photographie, die er seinen Lesern aus gutem Grunde vorenthält. Als das Buch erschien, war die Photographie bereits mehr als zehn Jahre veraltet - und doch ist es eine erste Gesamtansicht des Bildgebrauchs gewesen. Es ist dieser Gebrauch, auf den Jörg Boström bei seinen neueren Arbeiten abzielt. Seine Beteiligung am Projekt Bilddokumentation der Arbeitsgemeinschaft Bildquellenforschung und Zeitgeschichte geht weit über eine bloße Bildlieferung hinaus und demonstriert exakt den Stellenwert des Bildes im Kontext des politischen Umbruchs nach der deutschen Wiedervereinigung: Anhalten, Umsehen, Abwägen und Bewahren statt des blindwütigen Aktionismus, den Banken, Entrepreneure und Politiker in den mitteldeutschen Bundesländern fortführen. Einer, der sich selbst dorthin auch zurückziehen mag, muß das Land lieben - und dieser Liebe bildlich Ausdruck verleihen. Das kann in der Photographie noch nicht so lange geschehen wie in Zeichnung, Malerei und Skulptur. Doch daß es heute in gleicher Intensität geschehen kann, verdankt die Photographie paradoxerweise den neueren Medien, denen, die ihr verschiedene gesellschaftliche Aufgaben abgenommen haben. Vom Medium der Information ist die Photographie zur Gattung der Kunst geworden. Jörg Boström hat den Übergang miterlebt und auf seine Weise gestaltet. Wir folgen ihm auf unsere Weise.
Rolf Sachsse, geboren 1949 in Bonn, Ausbildung als Fotograf, Studium der Kunstgeschichte, Kommunikationsforschung und Literaturwissenschaften, Promotion mit einem fotohistorischen Thema. Professor für Fotografie und elektronische Bildmedien am FB Design der FHN in Krefeld, assoziierter Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der HfG Karlsruhe. Hat sich immer gern an Jörg Boström gerieben.
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