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Jürgen Meier Die Ontologie des Examens. Ein philosophischer Spaß
Gibt es sie, die Ontologie des Examens? Wie war sie 1973 und wie ist sie 1996? Sicher, es sind immer Prüfungen, es sind Fragen, Aufgaben, Präsentationen die der Student bzw. der Professor mit dem Examen verbindet. Aber dies sind bloß Mittel die zu einer Ontologie führen sollen. Oder? Wenn das so ist, folgt Zweck des Examens der Ontologie oder gibt diese den Zweck des Examens vor? 1973 examinierte ein Student mit dem Thema "Politische Ökonomie und Ästhetik in einer Übergangsgesellschaft" und agitierte mit propagandistischen Mitteln für die chinesische Kulturrevolution. Vier Begriffe* - alles handfeste ontologische Marterpfähle - für einen dreiundzwanzigjährigen Studenten, an denen er nicht nur sein Profil in markige Thesen zu schnitzen versuchte, sondern an deren Spitzen er vergeistigte Künstler, Literaten, Schwätzer und sonstige bürgerliche Egozentriker zu nageln wünschte. Das Profil des Examinanten trug wenig eigene Form. Es ordnete sich dem großen Sein unter, von dem er wußte, daß es zwangsläufig das Bewußtsein bestimmt. Politik deutete er mit Lenin als eine Beziehung zwischen den Klassen, die die Gestaltung der Ökonomie nicht subjektiv, sondern nach den Gesetzmäßigkeiten der Produktionsverhältnisse entsprechend ihrer polaren Kräfte regelten. Ästhetik stand für unseren Studenten von 1973 nicht in einer Schillerschen Tradition, es gab nicht schön, nicht häßlich, es gab bloß richtig oder falsch im Sinne der Entwicklung der Produktionsverhältnisse. Es ging auch nicht um Gut und Böse. Es ging um vorwärts in der Entwicklung der Gesetzmäßigkeiten des Seins! Der vierte Begriff faßt dann konsequent alles zusammen, was der erste bis dritte als Ergebnis zusammengetragener Zitate offensichtlich machte: Der Sozialismus folgt gesetzmäßig aus dem Sein des Kapitalismus. Vorausgesetzt ... Der Examinant und die meisten seiner Kommilitonen schwammen auf einer Welle mit, im Glauben an die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Ontologie bzw. der objektiven Bedingungen. Es waren Kausalitätsfanatiker ohne Liebe zum Detail. Subjekte kamen bei ihnen nur als subjektive Faktoren vor, also gar nicht. Werbung oder Agitation und Propaganda standen nicht zur Alternative. Denn die Gesetzmäßigkeit der Ontologie begriff Werbung zwangsläufig als Hebel der Gegenkräfte. Da gab es nichts mehr zu diskutieren, sondern nur abzulehnen. Sich selbst nicht so wichtig nehmen. Lust, Liebe und individuelle Freude den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Seins unterzuordnen war die zentrale Lebensbotschaft unseres Examinanten. Unser Examinant des Jahres 1973 ist 1995 in das Kuratorium einer Universität berufen worden. Er schaut, lauscht und staunt. Professoren berichten über die Projekte ihrer Fakultäten und ermuntern die Kuratoriumsmitglieder Fragen zu stellen. Ein bekannter Mann der Industrie meldet sich: "Ich habe in meinem Unternehmen vierzig Ingenieure für ein Jahr aus Finnland, die mir dort eine Filiale aufbauen sollen. Sagen Sie mir, Herr Professor, können Sie in ihrem Sprachinstitut nicht ein Konzept entwickeln, damit diese Ingenieure in kurzer Zeit die deutsche Sprache lernen?" Der Angesprochene springt von seinem Stuhl auf, schlägt die Schuhe zusammen, bedankt sich herzlich für die Anfrage, die selbstverständlich umgehend erledigt wird. Und zwar theoretisch und praktisch. Zwei anwesende Studenten nicken zustimmend. Die Theorie ist also auch 1996 ontologisch orientiert und nimmt ein allgemeines Interesse von vierzig Ingenieuren und einem großen Industriebetrieb wahr. Sicher, sie wird mindestens eine Diplomarbeit gedeihen lassen. Das Examen dieses Studenten verbindet Theorie und Praxis dann brillant miteinander und der Seismograph für Erfolg ist die Drittmittelbeschaffung. Was läuft da eigentlich anders, fragt der Examinant von 1973? Theorie und Praxis zu verbinden, das haben wir doch auch versucht. Wenn es gelingen sollte, mußten wir auch der Hochschule entweichen und der Test in der gesellschaftlichen Praxis wurde erforderlich. Gut und Böse zählten damals nicht und sind auch heute weniger das Problem. Das "Subjekt der Bedürfnisse" löste sich damals wie heute in das "andere Sein", das "Fremdbestimmte", das "Triebige", das "Gesetzmäßige" oder das "Zwangsläufige" auf. Aber ganz nüchtern betrachtet gibt es doch einen Unterschied. An die Stelle der Schreibmaschine, der Leinwand, dem Layoutkarton, der Fotografie, der Setzerei, dem Bleistift, dem Pinsel ist die "integrative Kraft und Dynamik" des Computer getreten. Die Ontologie des Examens von 1996 ist einfach überzeugend durch seine Integration vieler subjektiver Faktoren in diesem objektiven Faktor. Die von 1973 glaubten an die objektiven Bedingungen, die durch subjektive Faktoren nur zur Erscheinung gebracht werden müßten. Die von 1996 glauben auch an einen objektiven Faktor und haben diesen sogar subjektiv vielseitig zur Erscheinung gebracht! Also, - eindeutig ein Fortschritt der Ontologie des Examens.
*) Politik, Ästhetik, Ökonomie, Übergangsgesellschaft
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