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Hans Kwiotek

Für James

 

I will cry tonight

There’s good crying and there’s bad crying

Tonight will be good crying

You will be part of it.

 

Während meines 1-jährigen Aufenthaltes in San Francisco besuchte ich 3 Monate nahezu täglich die Station 5a des San Francisco General Hospital. Auf dieser Station werden Aids-Patienten bei akuten Beschwerden stationär behandelt.

Durch meine Arbeit für den San Francisco Sentinel fotografierte ich viele Veranstaltungen, Demonstrationen und fundraising events, die sich mit dem Thema Aids befaßten. So wurde ich auf Ward 5a, die erste und für ihre hervorragende Arbeit vielfach ausgezeichnete Aids-Station der USA, aufmerksam. Mein Ziel war es, die Situation der Aids-Patienten in dieser wohl am stärksten betroffenen Stadt der USA zu dokumentieren. Mit der Zustimmung und Unterstützung von Diane Jones, der Oberschwester und Leiterin von 5a, und allen anderen Schwestern, Pflegern und Freiwilligen begann so für mich mein in vielerlei Hinsicht bedeutendstes und prägendstes Projekt.

Anfänglich war es sowohl für die Patienten als auch für das Pflegepersonal ungewohnt täglich eine Fotografen an ihrer Seite zu haben. Ähnlich ging es mir, da ich bis dahin Krankenhäuser nach Möglichkeit gemieden hatte. Nach nur wenigen Besuchen wurde ich nicht nur akzeptiert, sondern mit einer kaum faßbaren Herzlichkeit aufgenommen.

Die Schwestern und Pfleger waren eine große Hilfe, da sie den ertsen Kontakt zu den Patienten herstellten. Erst nachdem sie erklärt hatten, wer ich sei und was ich mache, konnte ich mich persönlich vorstellen. Zu meinem großen Erstaunen waren fast alle Patienten an meinem Projekt interessiert und gewillt, sich fotografieren zu lassen. Viele haben gehofft, durch ihre Mitarbeit dazu beitragen zu können, daß das Bewußtsein der Menschen, besonders das der Politiker, für Aids wachgerüttelt wird und die Krankheit nicht in Vergessenheit gerät. Wenn ich Zeit mit ihnen verbrachte, trat das Fotografieren in den Hintergrund. In langen Gesprächen unterhielten wir uns über die unterschiedlichsten Themen: ihr Leben, ihre Gedanken, Gott und die Welt und auch über Aids und die Aids-Politik der amerikanischen Regierung. Für viele war ich als Gesprächspartner eine willkommene Abwechslung, besonders wenn sie keine Freunde oder Angehörige hatten. In den meisten Fällen aber war die Unterstützung und Betreuung durch Freunde und Familie sehr intensiv und fürsorglich.

Von den vielen Menschen, die ich auf der Station 5a kennengelernt habe, sah ich die meisten nur einige Male, da sie entweder entlassen werden konnten oder in ein anderes Krankenhaus oder Hospiz verlegt wurden.

Anders war es bei James. Als ich ihn das zweite Mal besuchte, fragte er mich, ob ich sein Freund sein möchte und mich um ihn kümmern würde. Von dem Tag an sahen wir uns fast täglich, zuerst i, San Francisco General Hospital und dann im Krankenhaus Laguna Honda. Dort verbrachte er auf einer Hospizstation die letzten Wochen seines Lebens. James war im General in einer ziemlich vertrackten Situation. Hätte sich sein Gesundheitszustand verbessert, hätte man ihn entlassen müssen. Die Konsequenz wäre wieder Obdachlosigkeit oder ein Leben in einem heruntergekommenen Hotelzimmer in Tenderloin, dem Rotlichtviertel San Franciscos, gewesen. Nicht mehr fähig, allein aufzustehen oder sich auf den Beinen zu halten geschweige denn für sich selber zu sorgen, sah er voller Panik der Zukunft entgegen. Nach mehreren Wochen des Wartens fand sich dann doch ein Bett in Laguna Honda für ihn. Endlich mußte er sich nicht mehr um seinen Verbleib nach der Zeit auf 5a Sorgen machen.

In den zwei Monaten, die ich James kannte, gab es einen Menschen, der sich mit absolut bemerkenswerter Hingabe um ihn kümmerte: David, den er bei einem früheren Krankenhausaufenthalt kennengelernt hatte. Seitdem war David für James der einzige aber auch der beste Freund, den man sich wünschen kann. Leider kommt es zu häufig vor, daß Menschen in solch extremen Situationen alleingelassen werden. Deshalb ist es für mich umso bewundernswerter mit wieviel Liebe sich David für James eingesetzt und gekümmert hat.

In den letzten zwei bis drei Wochen hatten David und ich gemischte Gefühle. Einerseits hofften wir, daß James möglichst lange durchhalten würde, andererseits kamen wir an einen Punkt, wo wir für James nur noch auf eine Erlösung von seinen Leiden hoffen konnten. Nach seinem Wechsel nach Laguna Honda verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide. Der Grund dafür lag wahrscheinlich in der Endgültigkeit dieser Verlegung. Er wußte, daß dieses der letzte Abschnitt seines nur 37jährigen Lebens sein würde. Von hier gab es kein Zurück mehr. Als ich James eines Morgens besuchen wollte, teilte mir eine Schwester mit, daß er in der Nacht verstorben war. Während ich auf eine Schwester wartete, die mich zur Leichenhalle begleiten sollte, wo ich mich von James verabschieden wollte, kamen seine Eltern aus L.A. Das erste Mal.

 

James am 19. Oktober 1995