Zum InhaltsverzeichnisVirtuelles Magazin 2000 

Karl Janke

Miniatur für J.B.

 

"Der Alltag der Photographie bedarf der Ergänzung durch die Allnacht des Traumes." Jörg Boström

 

Arbeitsraum

Licht fällt ein von außen, in breite Streifen geteilt durch die Sprossen eines Fensters, links auf halber Höhe. Diagonal streicht es nach unten über das feinweiße, den dunklen Raum senkrecht gliedernde Liniengitter wie vorbei an überdimensionalen Klaviersaiten. Dagegen hält eine meßlattenartig gestreifte Stange mit der Präsenz eines im Fluge sistierten Wurfspeeres. Die weiße Scheibe einer großen Wanduhr dahinter zeigt vier Minuten vor drei. Seine größte Helligkeit erreicht das Licht im Spotlight mitten am unteren Bildrand, an dem sich die Vertikalstrukturen maschinenhaft verdichten, und wo es sich mit dem Licht einer zweiten Quelle kreuzt. Das Spotlight vermag den Blick dennoch nicht festzuhalten gegen den Aufwärtssog der dicht ge-staffelten Vertikalen im Hochformat: irritiert wandert der Blick hin und her zwischen zeichenhaft aus dem dunklen Off des Raumes chaotisch in Untersicht auftauchenden Dingen: rätselhafte Tücher, Drahtgitter, Kreise, unidentifizierte fliegende ObjekteŠ

Verstört drängt der Betrachter auf Verifizierung der Bildmittel. Was hat er, was geht hier vor sich? Eine avantgardistische Installation oder die bizarre Maschinerie inszenierter Photographie? Die Dynamik eines wohlinstrumentierten Raumes surrealistischer Art mit Schockbegegnung und unterschiedlichen Zeitzonen? Der Titel lautet lapidar: »Waschkaue, 1987. Zeche Minister Stein, Dortmund« (Abb.1).

Bild für ein Oeuvre

Kann ein einzelnes Bild für ein ganzes ‘uvre stehen? Ein Gedanke, der dem Photographen J.B. in gewisser Hinsicht wohl Anathema wäre, weil Photographie ihrer Medienspezifik wegen sich Totalität nur in Serie, Montage und zeitlich gestreckt nähern könne. Und doch fordert diese Photographie dazu heraus, im Sinne einer intel-lektuellen Autobiographie gelesen zu werden, autorisiert vielleicht auch von der Rolle des Fragmentarischen in der Ästhetik der Moderne. Jedenfalls kreuzen sich hier wie in einem Prisma Strukturen und Sprachelemente, die jeweils für den Photographen, den Maler, Computerkünstler, Theoretiker und Pädagogen stehen - Rollen, die J.B. in seinem Werk vereint: seit früher Kindheit von der Arbeitswelt des Ruhrgebiets und der Ingenieurtätigkeit des Vaters geprägt durchzieht sein Werk von den Anfängen bis in die Gegenwart die einigende Dimension menschlicher Arbeit — kontrapunktisch, inhärierend, expressiv. Der Blick in den Arbeitsraum ist bei J.B. zugleich Blick ins Künstleratelier und umgekehrt.

Clair-obscur

Das Wechselspiel von strenger Lichtregie und dunkler Unbestimmtheit, von Atmosphäre und Struktur ruft Erinnerungen an gegenreformatorische Bildstrategien auf: die quasi-tachistische Virulenz der Arbeitergewänder an der Decke in Kontrast zu den Kettenzügen der Waschkaue gleicht der Gewandbehandlung und den materialisierten Lichtstrahlen in Berninis »Verzückung der Hl. Therese« (Abb.2). Wie bei Bernini bezeichnen Gewand- und Lichtbehandlung ein Transfigurationsgeschehen, stehen beide für Leibvergessenheit. Solche Tilgung des Menschlichen analysierte der Theoretiker J.B. als Wesenszug von Sakralarchitektur, ihre bis in die Industrie-photographie der Gegenwart fortwirkende Umfunktionierung zu »Kathedralen der Arbeit« durch die »Schönheit der Arbeit« propagierende Naziphotographie rief seine Kritik und Gegenkonzeption hervor (Abb.3). An die Stelle der Ästhetisierung der Politik tritt in seiner bildkünstlerischen Praxis deren Inversion. Eine dialektische Vertauschung, die Zone des himmlischen Lichtes unten, die Zeichen der Materie oben. Statt der unio mystica mit der Lichtgestalt eines abstrakten Gottes oder Führers erscheinen die leeren Hüllen des abwesenden Menschen am dunklen Himmel. Nicht deus, sondern homo absconditus. Selbst Ergebnis einer Bildserie, die das Zechensterben in Dortmund zum Gegenstand hat, ist die Photographie ein indstriearchäologisches Dokument. Doch nicht in bloß archivalischem Verstande, sondern auch als Beleg für J.B.s grundsätzliches Interesse an politisch-sozialer Realität. Er will das Fabrikgebäude - Brecht weiterdenkend - »zurückphotographieren in seinen Funktionszusammenhang, es in Bewegung bringen durch Bilder.« So wird das industriearchäologische Fundstück zum Symbol vom Ende einer ganzen gesellschaftlichen Ära. »Die Klamotten sind hochgezogen«: Dortmunds letzte Zeche. Zechensterben. Allegorie vom Ende der Arbeitsgesellschaft.

Negative capability

Zehn Jahre später lesen wir das Photo womöglich noch kritischer als zur Zeit seiner Entstehung, gestützt auch auf feine Abweichungen in der neuerlichen Präsentation des Bildes: betonte Höhen und Bässe bei Verringerung der Grauwerte bewirken zusammen mit einer Verengung des Ausschnitts noch stärkere Dingpräsenz und Verrät-selung, eine bedrohlichere Anmutung. Imprägniert mit der Erfahrung des doppelten Zivilisationsbruches im 20. Jahrhundert - Auschwitz und Hiroshima - vermag das fin de millénaire Assoziationen nicht abzuwehren, die sich mit der Struktur des gebündelten Aufwärtssogs des Lichts und dem überquellenden chaotischen Formpotential darüber verbinden. Was der Romantik psychologisch rationalisierend als Signum der Imagination hat erscheinen können, jenes powerful overflow of fee-ling (Wordsworth), verband sich gerade in den 80ern wieder mit dem Schattenbild des atomaren Lichtpilzes. Haufen verlassener Kleidungsstücke gerieten kollektivem Gedächtnis an-dererseits unauslöschlich zum Zeichen industriellen Massenmords. Christian Boltanski inszenierte ein Jahr nach J.B. eine ähnliche Raumsituation in seiner Installation »Canada« (Abb.4). Gewänder und Licht erinnern daran, daß unentrinnbarer »Denk- und Anschauungsraum der Moderne die Fabrik« ist, Realisierungsort von Epochentraum wie Epochentrauma.

Negative capability: J.B.s Reflexion gesellschaftlicher Realitäten, insbesondere von Arbeit und Technik, drängt gleichwohl auf Erprobung und Erforschung neuer Möglichkeiten: die Erweiterung der »dunklen Kammer« zum Computer am Ende des 20. Jahrhunderts - die des einundzwanzigsten basiert womöglich auf optischen Strukturen - treibt seine künstlerische Nutzung hervor, die der Möglichkeit nach bereits in der komplexen, ihre Widersprüche vernetzenden Künstlerpersönlichkeit J.B.s angelegt waren: einer computergewohnten Generation erscheinen die Kleidungsstücke und Gitterstrukturen wie fliegende Toaster aus dem Dunkel des Bildschirmschoners.