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Richard Hiepe

Betrachter und Betrachtung

 

Drei Menschen betrachten mit angehobenen Köpfen eine außerhalb des Bildraumes gelegene Erscheinung: Das großformatige Gemälde von Jörg Boström scheint nicht zu verraten, was sie betrachten. Ein kleiner, weit entfernter Gegenstand, ein Vogel oder ein Bergsteiger in der Wand kann es nicht sein. Dazu laufen die Blickwinkel der Betrachter zu verschieden, und es fehlen die Merkmale angespannten, scharfen Weitsehens. Die konzentrierte Ruhe und die Verbundenheit der drei sprechen überdies gegen ein spontanes oder sensationelles Seherlebnis - beispielsweise die Montage eines Turmdrehkranes oder die Bewegungen eines Lebensmüden auf einem Balkon. Vielmehr deuten die Größe der Figuren, die Art, wie sie in der Dramatik eines fotoähnlichen Ausschnitts ins Bild plaziert sind, darauf hin, daß sie als Betrachter oder daß eben das Betrachten selbst zum Bildthema gemacht ist. Damit sind wir der Lösung des Rätsels schon ganz nahe; denn jedermann kennt solche Betrachtergruppen, hat sie mit angehobenen Köpfen dastehen und betrachten gesehen: vor Kathedralen, Denkmälern, Palästen, den figurenreichen Fresken alter Kunst. Das könnte als Behauptung wirken: Vielleicht betrachten die drei keine große Kunst, sondern meinetwegen den Tanz der Schäfflerfiguren im Münchner Rathausturm. Aber hier klärt eine letzte Bildlist: Es handelt sich nämlich um ein Selbstbildnis des Malers Jörg Boström mit seiner Familie. Und: so wie diese Gruppe betrachtet, wie solche Betrachtung geradezu als Forderung gemalt ist, geht es eben doch um Dinge, die solcher Betrachtung würdig sind, um die Dimension der Kunstbetrachtung, um ein altes großes Thema der Malerei, das in Boströms Bilderfindung im Zeitalter des Bildungstourismus als allgemeine gesellschaftliche Erscheinung erfaßt ist.

Wie man dieses Gemälde entschlüsseln kann durch genaues Hinsehen, Betrachten und richtiges Kombinieren, wie es sich verwandelt von einem alltäglichen Kameraschnappschuß mit Touristen (auf dem Münchner Marienplatz oder bei einem Schauflug) zu einem Lehrstück für Bildbetrachtung, verwandelt es sich auch in das Bekenntnisbild eines Malerfotografen.

Jörg Boström, der bildende Kunst und Fotografie mit gleicher professioneller Intensität und seit vielen Jahren im Lehrberuf an der Fachhochschule in Bielefeld betreibt, spricht bekennend von seiner eigenen, betrachtenden und gestaltenden Art zu malen und zu fotografieren und geradezu programmatisch von der Notwendigkeit, solches Betrachten einzuüben.

Denn die Fotografie, der wir unschätzbare Bereicherungen unserer Seh- und Wirklichkeitserlebnisse verdanken, verführt im allgemeinen gesellschaftlichen Gebrauch oder Mißbrauch zu einer erschreckenden Oberflächlichkeit des Sehens: Blicke auf Bilder, die so schnell geschossen werden wie die Fotos, denen sie gelten. Fotos, die als Wirklichkeit und Wirklichkeitsersatz genommen werden. (...)

(aus: Das soziale und bildnerische Engagement im Werk von Jörg Boström, Arbeiterfotografie, ...)

 

 

Jörg Boström, Betrachtung, Öl auf Kasein/Leinwand, 1977