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Dietrich Grünewald

Comics als Welttheater.

Will Eisners "Big City Blues"


Obwohl die grenzüberschreitende, pluralistische Kunst unseres Jahrhunderts ihren Rezipienten vorgibt, enge, starre Kunstvorstellungen aufzugeben, konventionelle ästhetische Werte als Maß beiseite zu lassen, sich auf Fremdes wie - unter neuem Blick - auf Vertrautes einzulassen, Gefühl und Denken als Einheit zu begreifen, Kunst und Lebenswelt in gegenseitiger Korrespondenz zu begreifen, obwohl die Kunst unserer Zeit Kunstpädagogen veranlaßt, ihrem Gegenstand, dem ästhetischen Prozeß, einen weiten Kunstbegriff zugrunde zu legen, und obwohl wir uns (nicht nur der politische und ökonomische Mißbrauch, sondern auch Duchamp hat es demonstriert) darüber klar sind, daß Kunstverstehen, Kunstwertung, Kunstakzeptanz mit subjektiven Setzungen (und deren gesellschaftlicher Durchsetzung) zu tun hat, obwohl wir also Offenheit, Neugier, Unvoreingenommenheit und den genauen Blick auf das Phänomen (als Angebot) als Modi ästhetischen Verhaltens zu akzeptieren gelernt haben sollten - sind eingeimpfte Vorurteile und einmal verpaßte Scheuklappen offenbar immer noch prägend. Auf Comics und Comicrezeption jedenfalls trifft das weithin zu. Vielleicht nicht mehr pejorativ, aber doch unbedeutend, künstlerisch "wertlos" gelten sie dem öffentlichen Kulturbewußtsein. Die Neunte Kunst, wie die Franzosen die Comics bezeichnen, hat hierzulande nur wenige über ihren Fankreis hinaus ansprechen können. In seinem lesenswerten Büchlein "Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus" setzt sich Shusterman vehement für die Populärkunst ein, warnt davor, vorschnell Schubladen zu öffnen (und gleich wieder zu verschließen). Er bezieht sich in seiner Argumentation auf Deweys Kunstverständnis als Erfahrung. Erfahrung - das verlangt, Erfahrung überhaupt zuzulassen, sich auf Angebote einzulassen, bevor man urteilt, verlangt, sich mit Angeboten und ihrer Spezifik engagiert und genau auseinanderzusetzen, um ihnen gerecht zu werden, verlangt Bereitschaft und Offenheit für Entdeckungen und eine adäquate Sensibilität zu entwickeln. Wie es nicht die Kunst gibt, gibt es auch nicht die Comics. So banal diese Feststellung auch ist, so wenig scheint sie für die Behandlung von Comics bedeutend; pauschalisierende Aussagen sind (auch heute, fast 40 Jahre nach dem Schund- und Schmutzkampf) eher anzutreffen als konkrete, beispielbezogene Analysen. Die wenigen (öffentlichen) Ausnahmen (ich denke z.B. an Spiegelmans "Maus") bestätigen nur: Ausnahmen.

Im folgenden daher einige Anmerkungen zu einer Kurzgeschichtensammlung - erzählt als Bildgeschichten, die vielleicht den Blick für die spezifische (erzählende und darstellende) Qualität der Neunten Kunst schärfen kann. Sie ist in der deutschen Übersetzung von Bernd Leibowitz 1987 im Verlag Reiner-Feest (Mannheim) herausgekommen. Das Album heißt "Big City Blues" und stammt aus der Feder von Will Eisner (geb. 1917).

"Die Blues sind Lieder, die für ein ganzes System von Vorurteilen, Ausbeutung, Terror und Ablehnung stehen, welches das Leben der Südstaatenneger in der Periode zwischen 1890 und 1940 bestimmen", charakterisiert Alan Lomax. Eisner überträgt seinen schwarz-weißen visuellen Blues auf New York, auf die "kleinen Leute", die underdogs, schildert in der blues-charakteristischen melancholischen Stimmung kleine Alltagsereignisse aus der Bronx. "Man muß den Blues erlebt haben, bevor man ihn singen kann." Eisner ist der Sohn eines Juden aus Österreich, der vor den Schrecken des Weltkrieges in die Neue Welt flüchtete und durch die Depression mit seiner Familie in Armut geriet. Er hat erlebt, wovon er erzählt. Das enge Leben in der Bronx, in der er aufwuchs, beschreibt er so: "Es gab keine Möglichkeit, anonym und für sich zu bleiben. Man stand entweder auf der Bühne, oder man saß als Zuschauer in der ersten Reihe." Eisner zwingt den Leser in die gleiche Rolle, führt ihn unmittelbar, emotional eingebunden, in dieses Leben, das er nicht distanziert beschreibt, sondern detailnah zeigt.

"Wie Tribünen in einem Stadion sind die Stufen vor der Haustür", leitet er das Kapitel "Stufen" (10 ff) ein, "Zugbrücke, Parkbank, und auch eine Bühne - sie sind sicherer Platz in der Arena der Stadt, von wo aus man sie betrachten kann - die Parade des Lebens." Die Kulisse markiert die Stimmung: hohe Mietshäuser mit rohen Backsteinmauern, atmen zeitlosen Verfall mit ihren schiefen Fenstern; schmuddelig - eine Mülltonne in der Ecke, leere Kartons, ein Rinnsal am Bordstein, in dem Abfall liegt; die Welt ist grau, nicht offen, sondern zugebaut, wie versperrt; der breite Bürgersteig spiegelt nicht großzügige Offenheit, sondern einsame Leere, vom Licht der exotisch anmutenden filigranen Gaslaterne kaum zu erwärmen. Eingefrorene, trostlose Hoffnungslosigkeit. An dem schwarzen Eingangsloch eines der Backsteinsilos klebt eine links und rechts mit schwerem Geländer gefaßte Treppe, auf der vier ältere Personen hocken, drei Männer, eine Frau. Ohne Kontakt zueinander dösen sie, scheinen die zähe Zeit mühsam für sich zu ertragen. Den Kopf gesenkt, offensichtlich vielgeübte Routine, trottet eine Hausfrau an dieser Treppe vorbei, auf den Betrachter zu. Die Rechte hält eine Einkaufstüte, die Linke trägt die Handtasche. Im Kontrast zur alltäglichen Trägheit der Szene läuft mit ausholendem Schritt, energisch die Arme vom Körper gespreizt, ein schlanker bärtiger Mann von schräg hinten auf diese Frau zu. Die beschreibenden spröden Worte können nur annähernd wiedergeben, was Eisner in das Eingangspanel dieser Episode gelegt hat; zumal die wertenden Attribute verraten, wie es ihm gelingt, den Betrachter gewissermaßen suggestiv durch Details, durch den Blick in die Szene (der Betrachter schaut von leicht erhabenem Standpunkt aus), durch die Körpersprache der Akteure, die Tristesse der Farblosigkeit, die bewußte Setzung von Leere emotional einzustimmen. Und dann folgen, positioniert im fortgeführten Verlauf des Bürgersteiges, vier umrahmte Einzelbilder, von links nach rechts, von oben nach unten zu lesen, die in enger Bildfolge das dynamische Geschehen zeigen, d.h. mit Einzelbildern in zeitlich kurzen Abständen, die den Bewegungsproze· nachvollziehen lassen: Der Mann hat die Frau erreicht, entreißt ihr von hinten die Handtasche, zerrt sie am Arm über sein Bein zu Boden, daß ihr die Einkaufstüte entgleitet, durchwühlt die Handtasche, findet Geld und wirft die Tasche zu Boden. In den Bildern sind die Akteure, entbunden von allen störenden Elementen, freigestellt und nah zum Auge des Betrachters gerückt, so daß jedes Detail der Aktion, vergleichbar mit der Zeitlupe eines Films, überdeutlich wird. Ein Pantomimenstück, ohne Beitext, ohne Sprechblase; wir erleben die aggressive Entschlossenheit des Räubers, wir sehen das hilflose Entsetzen der Überfallenen, ihren aufgerissenen Mund, und ihr stummes Schreien tönt gellend im Kopf des Rezipienten.

"Während Bilder ohne Worte eine primitivere Form der grafischen Erzählung zu repräsentieren scheinen, verlangen sie in Wahrheit einiges an Fähigkeiten vom Leser (oder Betrachter). Lebenserfahrung und eine gewisse Beobachtungsgabe sind notwendig, um die Gefühle der Figuren richtig zu interpetieren." So Eisner in seinem Buch "Mit Bildern erzählen". Hier zeigt der Comicartist, daß er sehr wohl weiß, was er tut - und wie überlegt (in Einheit von Intuition, Fantasie, Emotion und Denken - wohl das, was man unter "ästhetischer Rationalität" verstehen könnte). Denn was er dem Rezipienten abverlangt, das hat er selbst so empfunden, so gemeint - und entsprechend gestaltet - visuell erzählt. Eisner befindet sich in guter Gesellschaft. Zwei historische Zeugen seien zitiert:

"Eine Bilderzählung wird dann das Gemüt bewegen, wenn die darin gemalten Personen ihre eigene Gemütsbewegung heftig ausdrücken." - Leon Battista Alberti (1404 -1472)

"Mein Wunsch war, auf Leinwand Bilder wiederzugeben, die den Aufführungen auf der Bühne gleichen, und ich hoffte, daß sie vom selben Standpunkte aus beurteilt würden. [...] Mein Ziel war, meinen Stoff zu behandeln wie ein Dramatiker. Mein Bild ist meine Bühne und Männer und Frauen sind meine Schauspieler, die durch gewisse Gesten und Stellungen ein stummes Spiel vorführen."

"Die visuelle Darstellung wird auf den Geist eines sensiblen Menschen überzeugender wirken als alles, was er in tausend Büchern findet..." - William Hogarth (1697-1764)

Umblättern. Eine Montage aus vier Bildern. Oben rechts sehen wir die Frau schräg von hinten. Sie kniet, stützt sich auf den ausgestreckten rechten Arm, faßt die leere Handtasche, deren Trageriemen zerrissen ist. Links die Tribünentreppe. Die Vier dort haben das Geschehen wohl verfolgt, sich aber nicht von ihren Stufen erhoben. Sie schimpfen, ballen dem Räuber die Fäuste entgegen. Der droht ihnen mit einem Messer. Links darunter, eingerahmt: Der Räuber läuft mit seiner Beute davon, die Personen auf der Treppe fuchteln hinter ihm her, die Frau, im Vordergrund, mit dem Rücken zu den anderen, sammelt die herausgefallenen Lebensmittel wieder in die Einkaufstüte, eine Träne auf der Wange. Rechts: Sie ist aufgestanden, hält ihre Habseligkeiten; verkrampft steht sie, die Fußspitzen zueinander gekehrt, wütend schaut sie auf die Treppen-Zuschauer, reckt die zur Faust geballte Rechte - und trifft nur auf stoische Unbeweglichkeit. Die Szene wird nach oben (nach hinten) von der Silhouette der Stadt abgeschlossen, was wie ein Rahmen, wie ein Ausrufezeichen wirkt: ein angedeuteter kausaler Bezug, alltägliche Gewalt und Ohnmacht der großen Stadt. Verlaufen für die Sicht des Betrachters die Treppenstufen in diesen drei Bildern (wie auch im Eingangsbild) von links oben nach rechts unten, so wird jetzt im unteren Panel die Betrachterposition gewechselt. Die Treppe verläuft schräg von rechts oben nach links unten, subtiles Zeichen des Abschlusses. Ebenfalls nach links, gegen die Leserichtung und von hinten gezeigt, geht mühsamen Schrittes das "Opfer" (so der Titel der Episode) davon; die Vier auf den Treppenstufen haben wieder ihre Haltung des Eingangsbildes eingenommen, dösen isoliert vor sich hin, als wäre nichts geschehen. Der Überfall war nur eine partielle, doch belang- und für sie folgenlose Unterbrechung...

"Essenszeit" heißt die nächste Episode. Ein ähnlicher Backsteinbau, eine ähnliche Treppe, die gleiche Silhouetten-Barrikadierung des Bildausblicks. Die Auflistung der nur leicht variierten Zeichen (die hochgeschobenen Fenster, die doch keinen Einblick ins Innere gestatten, der Müll in der Ecke, die breiten Stufen mit dem Geländer, der Eindruck schmuddeliger Zeitlosigkeit) stimmt das Grundmotiv an: die Tribünen-Treppe, die zugleich Bühne ist - Metapher der Stadt, Metapher des Welttheaters aus der Kellerperspektive (die Eisner im Kapitel "Fenster" wörtlich nimmt und dem Betrachter mit dem Blick durch die Gitterstäbe eines halbrunden Kellerfensters ein Schauspiel beredter Beine bietet). Die vier Personen auf der Treppe gliedern sich in zwei Gruppen: im oberen Treppenbereich spielen zwei Männer Schach miteinander, beobachtet von einem dritten. Auf der untersten Treppenstufe, von ihnen abgewandt und in ein Buch vertieft, hockt, eine Tüte neben sich, ein alter Mann. Dieses Papiertheaterstück bedarf der Rede seiner Akteure: Eine Frau beugt sich aus dem Fenster. "Essen ist fertig, Joe!" - "Komm schon, Clara!" antwortet der Schach-Kibitz. Hier genügt nicht der Charakter des Sprechens (wie in der oben geschilderten Episode), hier kommt es auf den Wortlaut an, denn er ist erzählerisch bedeutsam. Er erklärt, warum im zweiten Bild der Kibitz aufgestanden ist und ins Haus tritt. Auf die gleiche Weise werden dann, nacheinander, auch die Schachspieler ins Haus gerufen. So erweist sich der erzählerische Wert der Sprechblase; sie ist kein Fremdkörper im Bild, sondern funktionales Element, das vom Betrachter in kausalem Bezug zum Bildgeschehen erfaßt wird. Zurück bleibt der Leser auf der unteren Stufe. Ihn ruft niemand (mehr?); mit keinem Wort, mit keinem Blick haben die anderen von ihm Notiz genommen. Subtil zeichnet Eisner; erst im Verlauf der Bildfolge addieren sich, bewußter wahrgenommen, die charakterisierenden Hinweise: die Isolation des Lesers verliert ihre Zufälligkeit; der Schatten der Treppe auf der Hauswand zeigt, wie die Stadtsilhouette im Gegenlicht, daß sich der Tag zum Ende neigt; unmerklich wird es dunkler, bis schließlich im schwarzen Nachthimmel ein kalter runder Mond steht; stille Leere beschreibt melancholisch die Einsamkeit des Alten. Die wechselnde Betrachterperspektive, die uns Eisner aufzwingt, ist dramaturgische Verstärkung.Der beschreibende Blick auf die Szene, wie er sich einem zufällig vorbeigehenden Passanten bietet, fordert schon im zweiten Panel emotinale Interpretation, wenn uns in bewußter Aufmerksamkeit die Treppe en face gezeigt wird, ihre perspektivische Verkürzung zur Tür hin, die den Kibitz bereits einsaugt, Bewegung nahelegt, die auch die Schachspieler umfaßt. Nur die Unbeweglichkeit des alten Lesers, der, weit von der Tür entfernt, mit dem Rücken zu ihr sitzt, uns Betrachtern nahgerückt, sperrt sich gegen die Verbindung Haus (als Heim) und Mensch. Wie mit einem fliegenden Kameraauge führt uns Eisner im nächsten Panel noch dichter heran, steigert im Hochformat die Bedeutung des Hinauf- und Hineingehens der Schachspieler, während der harte Schlagschatten des Sitzenden und seine vorgebeugte steife Haltung die Ab- und Ausgrenzung untertreichen. Aus der Vogelperspektive wird das im nächsten Bild im Überblick noch deutlicher. Der letzte der Hereingerufenen verschwindet, angeschnitten, im Haus; der Alte hat sein Buch weggelegt und beugt sich zu seiner Tüte; auf leerem Bürgersteig bleibt ihm nur noch eine einsame Mülltonne als Gesellschaft. Im letzten Bild sind wir dicht an ihn herangerückt, sehen ihn von der Seite, seinem leeren Blick ausgewichen. Er wirkt wie ein Charakterdarsteller seiner selbst, im Spot eines Lichtkegels, dessen Quelle außerhalb des Bildes bleibt. Während, wie wir uns unschwer vorstellen können, die anderen zusammen mit ihren Frauen im Zimmer geborgen beim warmen Essen sitzen, nimmt der Alte sein einsames Essen auf der Treppe ein, beißt in das Brot, das er aus der Tüte geholt hat, in der noch die Flasche mit Milch ist. Sorgsam liegt ein Apfel auf einer auf dem Boden ausgebreiteten Serviette...

Dann, als Kontrapost, die nachfolgende Episode: "Heimkehr". Strahlend kommt mit seinem Gepäck ein junger Soldat nach Hause, von den Eltern freudig, lachend auf der oberen Treppenstufe erwartet. In glücklicher Umarmung gehen sie ins Haus. Auf der unteren Treppenstufe sitzt ein junges Mädchen; sie ist in ein Buch vertieft, nimmt von dem Heimkehrer keine Notiz. Doch der wird auf sie aufmerksam, als er beim Aufhängen seiner Uniformjacke einen Blick aus dem Fenster wirft. Mit leicht verlegenem Grinsen kommt er die Treppe herunter, greift haltsuchend mit der Rechten ans Geländer, rückt mit der Linken die Krawatte zurecht - und spricht das Mädchen an. Überrascht schaut sie auf, läßt das Buch sinken. Und im letzten Panel sehen wir die beiden gemeinsam auf der unteren Treppenstufe sitzen, er scheint zu erzählen, sie schaut (aufmerksam, bewundernd?) auf ihn. Das Buch liegt unbeachtet auf dem Boden; längst ist es dunkel geworden, der Mond über der Stadtsilhouette beleuchtet die intime Szene ... Bluesgefühl. "Und dann gibt es natürlich unzählige Blues, in denen von der Liebe gesprochen wird; freilich nicht in romantischer Verklärung, sondern mit aller Realistik, deren das Thema ja auch fähig ist."

Realistik zeichnet Eisners Episoden aus; die detailgenaue Wiedergabe der Stadt, die Häuser, Straßen, Verkehrsmittel, die Gullis, Papierkörbe, Mülleimer, die Fenster, die Treppen; die Alltagsszenen, die unspektakulär ihr ambivalentes pulsierendes Leben spiegeln: den Betrunkenen, der in der U-Bahn dem letzten Fahrgast sein Lied singt, über dessen Gleichgültigkeit wütend wird, dann verzweifelt und schließlich einschläft; den Eiligen, der mit letztem Einsatz die Bahn noch erreicht, aber dann wegen Überfüllung nicht einsteigen kann; Kinder, die auf der Straße spielen oder als street-gang ums Überleben kämpfen; die Sehnsüchte und Träume der Menschen, die Alltagssorgen und -nöte, das stille Glück, die Armut, die kleinen und großen Tragödien, Trauer und Lachen. Sparsam geht Eisner mit Text um, setzt ihn - als Kommentar, als wörtliche Rede - nur ein, wo er erzählerisch, inhaltlich bedeutsam ist; sonst vertraut er der Kraft der erzählenden Bilder, mit denen er den Betrachter im dramaturgisch geschickten Spiel von Perspektivwechseln, statischen und dynamischen Szenen, Detail und Überblick, Stille und Lärm durch das Viertel führt, ihn immer weniger zum Voyeur, sondern zum emotional Beteiligten macht. In vielem erinnert mich Will Eisner an Heinrich Zille, den Chronisten des proletarischen Berlins. Wie Zille vermeidet er jede Form von Plattheit und falsches Pathos. Der Lebenswille, der Humor der Menschen bleibt bei aller Melancholie, bei aller sozialen und materiellen Armut, spürbar. Kritik, sogar Anklage schwingt in vielen Geschichten mit - aber sie wird nicht plakativ verkündet, sondern dem interpretierenden, weiterdenkenden Betrachter nahegelegt, ist erst von ihm zu formulieren. Zilles direkter Humor tritt bei Eisner zurück, auch wenn er manch witzige, lustige Episode zeigt. Eisner ist - sein Buch ist eben ein visueller Blues - melancholischer, ohne sentimal zu werden. Das verhindert schon die Darstellung seiner Menschen, die alle eine stilistische Nähe zum Cartoon haben, damit - wie Zilles Menschen - nicht unnahbar, sondern liebenswert und extrem lebendig wirken. Eisners Sympathie zu diesen Menschen und ihrem Viertel spricht aus jedem Strich. Die Episode "Unser Block" ist geradezu eine Liebeserklärung: wenn das ältere Ehepaar, das von ihren Kindern aus dem Viertel aufs Land geholt wird ("Komm, Mama ... versuch's doch erst mal ... Du wirst sehen, das is' besser als der alte Block ... Was ist falsch daran, besser zu leben?") schließlich glücklich in die alte Wohnung, zu den alten nachbarlichen Freunden zurückkehrt. Eisner zeigt; er wertet nicht offen, aber in seiner Blickführung, in seinem Stil, in seiner inhaltlichen Auswahl legt er dem Rezipienten seine subjektive Sicht und Einstellung nahe, ein Angebot, das zwingender wird, je mehr man sich einsieht und einliest. Freilich nur dann, wenn man bereit ist, das Angebot anzunehmen, dieser Erzählkunst zu folgen, sich ihr zu öffnen und die Bildfolgen nicht lediglich konsumierend zu überblicken, sondern sie erschließend zu lesen.

1 Richard Shusterman: Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus. Frankfurt/M. 1994

2 zit. Schmidt-Joos: Jazz. Gesicht einer Musik. Gütersloh o.J.,128

3 Schmidt-Joos, 129

4 zit. A.C. Knigge: Comic Lexikon. Frankfurt/M. 1988, 175; vgl. auch Eisners zweibändige Autobiographie: Zum Herzen des Sturms. Stuttgart 1992

5 Will Eisner: Mit Bildern erzählen. Comics & Seqential Art. Wimmelbach 1995, 26

6 Leon Battista Alberti: Della Pittura Libri III, voll. 1435, veröff. Basel 1540

7 William Hogarth: Über das Kunststudium, in: W.H.: Analyse der Schönheit. 1753, 1. dt. Übersetzung 1754, zit. (dt) Ausgabe Berlin 1914, 12 f); Hogarth nach F. Antal: Hogarth und seine Stellung in der europäischen Kunst. Dresden 1966, 17