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Martin Roman Deppner

Jörg auf dem Fahrrad und

"Die schönen Radfahrerinnen" von Léger

Ein Bild fehlt in dem an Motiven reichen Oeuvre Jörg Boströms, ein Bild, das ich mit ihm verbinde und das so gut in seine dialogische Bildsprache passen würde, entworfen zwischen Leben und Kunst, zwischen Fotografie und Malerei: Jörg auf dem Fahrrad.

Warum? Sommersemester 1973. Abschlußprüfung im Fachbereich Design. Begleitend zur Präsentation der Abschlußarbeiten die mündliche Prüfung. Mein Hauptprüfer: Jörg Boström. Gerade an diesem Tag, an dem vieles darauf ankam, daß die Argumente saßen und der Vertrauensdozent zum Vertrauen auf die eigene Leistung anwesend war, gerade an diesem Tag fiel jenes Auto aus, das Jörg Boström vom entfernten Bauernhof bei Herford nach Bielefeld bringen sollte. Jörg schwang sich aufs Fahrrad und kam verschwitzt und sichtlich aus der Puste auf dem Sparrenberg an, just in dem Moment, als ich die gleiche Höhe erreichte und den Ereignissen des Tages aufgeregt entgegensann. Rechtzeitig also war er angekommen, anwesend, um mir die Prüfung abzunehmen, was mein Selbstvertrauen stärkte und die Achtung für einen Dozenten steigen ließ, der nicht gewillt war, die Verantwortung zu delegieren.

Eigentlich hätte ich dieses Bild der Begegnung mit dem auf dem Fahrrad ankommenden Jörg selbst herstellen müssen, aber assoziativ verbinde ich es mit der Kunst Boströms, weit über den persönlich von mir darin gesehenen Anlaß hinausreichend. Es ist für mich ein inneres Bild, dessen ästhetischer Gehalt sich aus jenen Bereichen speichert, die auch in anderen Projekten Boströms zur Wirkung gelangen: Technik und Mensch, verwoben in Strukturen sozialer Realität.

Vielleicht trug dieses Erlebnis dazu bei, daß in einem meiner ersten kunstwissenschaftlichen Aufsätze nach dem Studium in Bielefeld, die Aufmerksamkeit auf jene "Radfahrerinnen" Fernand Légers fiel, die etwas von dem vermitteln, was mit diesem gespeicherten Bild des Fahrad-fahrenden-Jörgs zusammenfällt. "Ihre Körper bestehen aus wuchtigen schweren Gliedern", schrieb ich , "Kolben, Bolzen, Maschinenteilen gleich zusammengesetzt, sind sie so ineinanderverschränkt, daß sie aufeinanderbezogen mit ihren Fahrrädern eine gemeinsame Funktionalität verkörpern. Fließbandarbeit, Montagetechnik, industrielle Fertigung haben ihre Spuren hinterlassen.

Die Ausfahrt in die kostbar gewordene Natur, durch einen gepflückten Zweig noch spärlich eingefangen, ist vom Arbeitsalltag nicht zu trennen. Aber auch die Möglichkeiten scheinen größer geworden. Nicht mehr individuelles Leid oder aussichtlose Verteidigung sprechen aus dem kollektiven Verständnis dieser Gruppe. Ihre klobigen Glieder wirken durch ausgedehnte Abrundungen weich, die Umarmungen sind zart aber in ihrer Festigkeit unbezweifelbar. Die farbigen Hintergrundflächen verleihen den Frauen spielerische Leichtigkeit. Das Alltagsgrau der Körper hebt sich auf in den optimistischen Tönen zu einer Utopie, die auf Selbstbestimmung zielt. Dieser utopische Gehalt entspringt einer Auffassung von Alltag, die Freizeit als vom täglichen Leben beeinflußt begreift. In dieser Aufhebung der Trennung von Freizeit und Arbeit wird eine friedliche, menschliche Form des Zusammenlebens antizipiert." 1)

Jörg Boström, der sich in seinen Fotografien dem industriellen Alltag auf vielfältige Weise zuwendet, um diesen auch als ästhetisches Phänomen zu erfassen und zu vermitteln, zielt zwar nicht mehr wie Léger auf eine Utopie, in der sich Mensch und Maschinen versöhnen. Sein Blick fällt auf die Erosionen dieses Verhältnisses, in dem sich jedoch - darin Léger vergleichbar - ästhetische Strukturen der Annäherung von Mensch, Technik und Kunst finden.

Léger bediente sich der Fotografie und verheimlichte keineswegs sein zugleich betriebenes ästhetisches Spiel mit der Kunstgeschichte. Auf Grundlage der Reflexion moderner Technologien und ihrer medialen Innovationen wie der zum Film erweiterten Fotografie, gelang es ihm, u.a. bahnbrechende Schlußfolgerungen zu ziehen, so jene, die die Eigenständigkeit der Farbe betreffen, die Eiheit von Gegenstand und Farbgebung aufhebend. 2)

Als leidenschaftlicher Fotograf hat Jörg Boström seinerseits im Foto ästhetische Strukturen entdeckt, die sich für ihn gleichursprünglich im sozialen Gehalt des beobachteten Motivs entbergen und die sich im Medium der Malerei fortleiten lassen. Es sind informellen Anteile die seine Fotografien freilegen, überlagernde Strukturen, Lichtreflexe, Schattenschläge, dazu Liniengespinste durch Nahsicht herangeholt. Die Veränderung des Augpunktes und Ausschnittakzeptanz verrücken den gewohnten und erwarteten Augenblick, werden Eingriffe in einem operationalisierenden Sinn. Das hat Benjamin seinerzeit von den Fotografen und Filmern gefordert und dabei übersehen, daß auch das traditionelle Tafelbild dazu in der Lage ist. 3)

Nicht nur Léger hat ihn darin widersprochen indem er strukturelle Qualitäten neuer Medien und mediatisierter Alltagsästhetik wie Montage und vom Gegenstand befreite Licht-Farbeffekte der Neon-Reklame für seine Gemälde zu nutzen wußte. In seinen "schönen Radfahrerinnen" montiert er klassische Strenge und autonome Farbflächen, Figuration und überlagernde Abstraktion zu einer Bildwirklichkeit, die den Charme einer Utopie aufrechterhält, die nicht zuletzt mit dem Fahrrad verbunden werden kann. Es ist sowohl Produkt der industriellen Moderne, wie es den Menschen zur Hand ist und den Einklang mit der Natur auch in der Bewegung ermöglicht. Es ist erschwinglich und hat in den zwanziger und dreißiger Jahren zu solidarischen Zusammenkünften beigetragen und diente nicht zuletzt den Arbeiterfotografen als Transportmittel zu Einsatzort, Labor und Redaktion.

Jörg Boström ist Kenner dieses Sachverhaltes und ist zugleich begeisterter Radfahrer. Letzteres sicherte ihn damals sein rechtzeitiges Erscheinen und mir den Mut für die Prüfung. Jörg auf dem Fahrrad ist für mich ein inneres Bild der Begegnung geworden, das vielfältige Antworten ermöglicht und auf Boströms Praxis als Lehrer und Künstler reflektieren läßt. Es gibt aber auch Anlaß darüber nachzudenken, warum eine ernst genommene Begegnung den Fokus der Kunst in seiner Eindimensionalität aufzubrechen in der Lage ist. Wenn richtig ist, daß "alles was einem begegnet ... um existent zu sein, darauf angewiesen (ist), daß man darauf antwortet" 4), dann ist auch dieses Antworten selbst im Werk Boströms existent. Die Begegnung der Medien in seinem Werk haben ihn dagegen gefeit, die autistische Verkürzung der Selbstbezüglichkeit als alleinige Botschaft der Moderne zu begreifen. Die Akzeptanz des Anderen ist bei ihm zu einem Dialog geworden, zu einer Begegnung, die gegenwärtig ist: über den Spiegelreflex der Kamera hinaus, den Horizont einer das Fahrradfahren übersteigenden Technologie auslotend, Körper und Technik, Eleganz der Bewegung und Anmutung der Begegnung in Erinnerung haltend.

"Der für die Einladungskarte zur Ausstellung im Oldenburger Schloß vom November 1995 bis Januar 1996 gewählte Ausschnitt einer Stahlkonstruktion wird entsprechend von einem im Entwicklungsvorgang hinzugefügten, malerisch anmutenden hellen Flecken ebenso angefressen wie dynamisiert. Die Statik des aufgrund seiner konstruktiven Ausgewogenheit gewählten Motivs ist gefährdet, die Erzählstruktur durch eine Unbestimmtheitsstelle, durch ein amorphes Gebilde unterbrochen. Zudem lassen einsehbare Erosionsprozesse - bildlich gesteigert mit Hilfe der das Fotokorn potenzierenden Technik des Silbergilantineprints im Verbund mit dem die verwendeten Materialien unter eine Glasscheibe pressenden Cliché-Verre-Verfahren - die Augenblicklichkeit des Schnappschusses zur Dauer langsamer Verfallsprozesse gerinnen. Kurz: Das Foto wird von malerischen Stimmungen überlagert, eingefangen.

Diese Strukturverschiebung ist auch in der Malerei gegenwärtig. Ein Beispiel von 1988 zeigt: Das einem Gemälde zur Vorlage dienende Foto hat Schlagschatten eingefangen, von einer in tiefstehendem Sonnenlicht selbst verschatteten Person. Die diagonale Bildzerfällung findet Einzug in die Malerei, unter montagehafter Hinzufügung anderer Figurationen, die nicht etwa Räumliches evozieren, sondern das fotografische Ambiente in die Fläche treiben. Zudem überführen farbige Reflexe die erlebte Situation in eine szenische Künstlichkeit, die den in schwarz/weiß gegebenen fotografischen Augenblick übersteigt und den Ort zu einer mediatisierten Ortlosigkeit - in diesem Fall ein bodenloses Weiß mit farbigen Resonanzen - verschwimmen läßt." 5)

1) Martin Deppner, Durch den Alltag zur Utopie, in: Ausst.Kat. Versuche über den Alltag. Dreizehn Arten Widersprüche zu beschreiben, Kunsthaus Hamburg, Hamburg 1978, S. 5

2) Vgl. Fernand Léger, Mensch Maschine Malerei, Bern 1971

3) Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt am Main 197O

4) Martin Walser, Ein Asyl von Anfang an. Umgang mit Hölderlin und darüber reden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Wochenendbeilage vom 24. August 1996

5) Martin Roman Deppner, Im Fokus des Anderen. Fotografie und Malerei im Dialog, in: Ausst.Kat. Boström. Zeitbilder schwarz 1966- 1996, herausgegeben von Andreas Beaugrand, Bielefelder Kunstverein, Bielefeld 1996, S. 17