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Irene Below

Das Bild der Welt in der Bilderwelt -

Walter Benjamins Kunsttheorie heute

 

"Es ist niemals ein Dokument der Kultur,

ohne zugleich eines der Barbarei zu sein."

Walter Benjamin. Geschichtsphilosophische Thesen

 

Am Oberstufen-Kolleg der Universität Bielefeld (vgl. BDK-Mitteilungen 4/94) gibt es zwar während der Ausbildung keine Zensuren, aber am Ende steht eine benotete Prüfung, die aus zwei Teilen besteht. Zum ersten Prüfungsteil gehören prüfungsrelevante Leistungen, die in der zweiten Hälfte der achtsemestrigen Ausbildung zu erbringen sind: eine bzw. zwei Fremdsprachenprüfungen; eine Gruppenarbeit als erste größere schriftliche Auseinandersetzung mit einer interdisziplinären Fragestellung, die aus einem Kurs oder Projekt des allgemeinbildenden Unterrichts hervorgegangen ist und zu zweit oder zu dritt geschrieben wird, und eine umfangreichere Abschlußarbeit in einem der beiden Wahlfächer - im Fach Künste meist eine künstlerisch-praktische Arbeit. Der zweite Prüfungsteil besteht aus der eigentlichen mündlichen und schriftlichen Abschlußprüfung, die dem Abitur entspricht. Da es dafür keine Vorzensuren gibt, hängt für die KollegiatInnen von dieser Abschlußprüfung viel ab.

Bei der Vorbereitung auf diese punktuelle Abschlußprüfung gelingt es Lehrenden wie KollegiatInnen häufig nicht gut, gelassen mit der ungewohnten Situation umzugehen. Sie wird immer wieder als Bruch mit bisherigen didaktischen Prinzipien und Lernformen empfunden. Der Wunsch, die Prüfungen selbst als eine Lern- bzw. Arbeitsform unter anderen Lernformen zu gestalten, ist nur schwer zu realisieren. Wie kann der Abschluß- bzw. Prüfungskurs so durchgeführt werden, daß die Prüflinge darin die Möglichkeit haben, ihre bisher erworbenen fachspezifischen und allgemeinen Erfahrungen, Fähigkeiten und Kenntnisse so zu bündeln und zu strukturieren, daß sie in der Prüfung in begrenzter Zeit mit begrenzten Mitteln ein für sie partiell neues Problem produktiv bearbeiten können? Einen Kurs, den ich unter solchen Gesichtpunkten recht gelungen fand, skizziere ich im Folgenden. Ich habe die Hoffnung, daß ein solcher Prüfungskurs für KollegInnen im Regelschulsystem aufschlußreich sein kann und einen Transfer erlaubt.

Walter Benjamins Überlegungen zur Funktion von Kunst und Massenmedien im Kontext des Faschismus spielten bereits bei der Konzeption des Studiengangs Künste ein wichtige Rolle (Below 1974, 28ff, 47ff). Kurz nach der Eröffnung des Oberstufen-Kollegs hatte ich deshalb den Versuch gemacht, mit dem ersten Jahrgang von Künste-KollegiatInnen Benjamins Kunstwerkaufsatz zu lesen: an einem Wochenende außerhalb des sonstigen Unterrichts. Ich habe das Seminar nur noch undeutlich in Erinnerung, sehr erfolgreich war es nicht. Die Sprache und die Denkweise Benjamins waren den KollegiatInnen offenbar zu fremd. Nach dieser Erfahrung kamen Texte von Benjamin in meinen Veranstaltungen nicht mehr vor, obwohl mir ein Absolvent aus diesem ersten Jahrgang, der inzwischen Maler geworden war, irgendwann einmal erzählte, diese Lektüre sei - obwohl er sie zunächst als sinnlose Quälerei empfunden habe - eigentlich das gewesen, was ihm bei seinem späteren Studium genutzt hätte.

Als zwei an Medien- und Kunsttheorie interessierte Kollegiaten mich vor vier Jahren fragten, ob wir in den bevorstehenden Abschluß- und Prüfungskurs Walter Benjamin einbeziehen könnten, war ich zunächst eher ablehnend. Die Vorstellung, ausgehend von Walter Benjamins Texten Prüfungsthemen für das Fach Künste und detaillierte Prüfungserwartungen zu formulieren, erschien mir absurd. Andererseits lockte mich aber auch eine neuerliche Beschäftigung mit Benjamin. Mir leuchtete die Argumentation der beiden Kollegiaten ein, daß am Ende der Ausbildung im Fach Künste eine Reflexion der Rolle der Kunst in der Gesellschaft ste-hen sollte. Außerdem sprach dafür, daß die Kursgruppe ingesamt an kunsttheoretischen Fragen interessiert war. Schließlich schien es mir nach den Brandanschlägen von Mölln und Solingen und angesichts der bedrohlichen Ausbreitung faschistischer Gewalt an der Zeit, neu über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft nachzudenken. Dafür könnte ein Autor aus den 30er Jahren vielleicht Anhaltspunkte bieten.

Inzwischen habe ich in drei Jahren (1993, 1994 und 1996) einen jeweils 10-wöchigen Kurs (6 Stunden pro Woche) mit dem Thema "Das Bild der Welt in der Bilderwelt - Zur Kunsttheorie Walter Benjamins heute" durchgeführt - als Prüfungskurs zum Abschluß der Ausbildung, den ersten mit 14, den zweiten mit 13, den dritten mit 17 TeilnehmerInnen. Alle Kurse waren besonders spannend, und hin und wieder haben wir über der Arbeit sogar die bevorstehende Prüfung vergessen. Die Formulierung der Prüfungsthemen samt Voraussetzungen und Erwartungen war nicht schlimmer als sonst auch, und meine KollegInnen und ich erlebten die KollegiatInnen in den folgenden Prüfungen fast durchweg als kompetente Prüflinge, die die Fähigkeit besaßen, ein breites Spektrum künstlerischer Phänomene sowie den aktuellen Gebrauch und die Verwertung historischer Kunst in den zeitgenössischen Massenmedien differenziert und eigenständig zu analysieren.

Kursverlauf

Die Kurse gliederten sich jeweils in zwei Teile. Im ersten kürzeren Kursabschnitt (ca. 3 Wochen) orientierten wir uns anhand einführender Literatur, die wir entweder gemeinsam lasen (Berger 1974, 1. Kapitel) oder die einzelne KollegiatInnen bzw. die Lehrende referierten (Witte 1992).1 Zusätzlich sahen wir den Fernsehfilm von Henning Buck "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit", der die Aktualität von Benjamins Denken zum Thema hat. So verschafften wir uns einen ersten Einblick in Benjamins kunsttheoretisches Denken und sein durch die Erfahrungen der Emigration geprägtes Leben. Gleichzeitig ergaben sich erste Diskussionen über unsere eigenen Wahrnehmungen von historischer und gegenwärtiger Kunst im Rahmen der Massenmedien und über Fragen und Probleme, die häufig durch gerade aktuelle Filme oder Fernsehsendungen ausgelöst wurden. Beim Diebstahl von Munchs "Der Schrei" im Jahr 1994 debattierten wir zum Beispiel, wie wir als Räuber nachweisen würden, daß wir im Besitz des echten Werks wären. 1996 diskutierten wir die Möglichkeiten von computergenerierten Bildern anhand des Fernseh-Features "Hat Kohl Madonna geküßt?" (ARD 28.2.96). Einmal luden wir den Fotografen und Lehrer an der Fachhochschule Bielefeld Jörg Boström ein, der Thesen zur Zukunft der Fotografie im Zeichen der elektronischen Medien zur Diskussion stellte. Anläßlich der 10jährigen Wiederkehr der Katastrophe von Tschernobyl befaßten wir uns mit den Schwierigkeiten bildlicher Dokumentation von Radioaktivität und diskutierten über die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, daß Bilder in den Massenmedien nur die Folgen der Radioaktivität sichtbar machen können, nicht aber diese selbst.

Im zweiten, längeren Kursabschnitt lasen wir gemeinsam den Essay "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit" (Benjamin 1963): jede/r bearbeitete eines der 17 Kapitel und hatte die Aufgabe, es im Kurs vorzustellen (nicht vergebene Kapitel bearbeiteten wir anhand von Materialien gemeinsam). Dafür stand maximal eine Kurssitzung (eine Doppelstunde) zur Verfügung. Als Hilfe zur Darstellung hatte ich nach dem ersten Kurs aufgrund vorangegangener Erfahrungen genaue Vorgaben gemacht, die ich auch an einem Kapitel konkretisierte. Die ReferentInnen sollten

1. den Stellenwert ihres Kapitels im Gesamtzusammenhang des Essays darstellen,

2. ihre Textfassung (die überarbeitete Fassung Benjamins von ca. 1938, wie sie allen in dem gleichnamigen Suhrkamp-Bändchen vorlag) mit der ersten Fassung von 1935/36 (Benjamin 1974) vergleichen,

3. die wichtigsten Thesen in ihrem Kapitel herausarbeiten,

4. die von Benjamin verwendeten Begriffe erklären sowie seine Beobachtungen und Überlegungen durch Bilder bzw. Texte, die er erwähnt oder gekannt haben konnte, veranschaulichen,

5. erläutern, wie sich seit Benjamin die in dem Kapitel angesprochene Thematik geändert hat (durch die technischen Entwicklung der Medien, politische Entwicklungen u.a.) und schließlich

6. erörtern, was sie an Benjamins Überlegungen noch für aktuell halten.

Die erste Ausarbeitung zu diesen Punkten sprach ich mit jeder/m genau durch, dann wurde sie getippt und für alle KursteilnehmerInnen vervielfältigt.

Nach der Vorstellung des Vorworts und der ersten beiden Kapitel schrieben wir im Kurs eine Klausur (vgl. Anlage 1). In allen drei Kursen hatten viele KursteilnehmerInnen vor dieser Klausur Angst, weil sie Benjamins Schreib- und Denkstil zunächst überwiegend "schwierig" und "unnötig kompliziert" fanden. Nach der Klausur waren fast alle erleichtert, weil sie mit der kurzen Textpassage besser zurecht gekommen waren als befürchtet und weil ihnen zu den Bildbeispielen viel eingefallen war. Diese Erfahrung gab Sicherheit und war eine wichtige Voraussetzung für die kontinuierliche Weiterarbeit.

Da die meisten KollegiatInnen als ersten Prüfungsteil im Fach Künste schon eine künstlerische Facharbeit absolviert und im zweiten Prüfungsteil nur noch die mündliche Prüfung vor sich hatten, simulierten wir in der folgenden Kurszeit die mündliche Prüfungssituation. Jede/r wählte sich PrüferIn, KoprüferIn und SchriftführerIn, die sich - in den meisten Fällen - ebenfalls auf das entsprechende Kapitel vorbereitet hatten. Bei der Vorstellung "ihres" Kapitels erläuterten die KollegiatInnen die wichtigsten Aspekte zu den oben genannten Punkten und zeigten dazu ausgewählte Abbildungen.

Der hektischen Atmosphäre im Oberstufen-Kolleg entflohen wir in allen Kursen mit Wochenendseminaren in einem idyllisch gelegenen Tagungshaus am Rand des Teutoburger Waldes. Bei einem dieser Treffen hielt ein Musik-Kollege einen Vortrag über Adornos Ästhetik. Sonst lasen und diskutierten wir dort nach dem skizzierten Schema besonders intensiv, betrachteten Dias, Papierreproduktionen aller Art (Kalenderblätter, Kunstpostkarten, Reproduktionen in der Zeitschriftenwerbung usw.), Originale und Videos, die zum Teil auch von den KollegiatInnen mitgebracht wurden.

Nachdem der Essay in dieser Form durchgearbeitet war - im ersten Kurs hatten wir das nicht ganz geschafft -, sollten sich die KursteilnehmerInnen in der letzten Kurswoche überlegen, auf welchen Themenbereich sie sich in der mündlichen Prüfung festlegen wollten. Ich hatte dafür Fragenkomplexe charakterisiert, die ich mir nach der bisherigen Arbeit als Prüfungsbereiche vorstellen konnte (vgl. Anlage 2). Die KollegiatInnen sollten bei ihrer Prüfungsvorbereitung auch die Epochen, KünstlerInnen oder Kunstrichtungen, berücksichtigen, mit denen sie sich im Rahmen ihrer Ausbildung am Oberstufen-Kolleg eingehender beschäftigt hatten. Bei der endgültigen Formulierung der Themen habe ich mich auf diese Schwerpunkte bezogen (vgl. Anlagen 3.1 und 3.2).

In den mündlichen Prüfungen zeigten die meisten KursteilnehmerInnen, daß die Reflexion von Benjamins Thesen aus heutiger Perspektive dazu beigetragen hat, das vielfältige, aber häufig disparate Wissen über die historische und gegenwärtige Kunst- und Medienproduktion und die eigene künstlerische Praxis aufeinander zu beziehen. Die KollegiatInnen waren in der Lage, ihre Kenntnisse und Erfahrungen in neuen, jeweils auch individuell bestimmten Zusammenhängen zu diskutieren.

Die genaue Lektüre eines historischen Schlüsseltextes zu Grundfragen der Künste in der Moderne, der vor über 50 Jahren geschrieben wurde, ermöglichte es offenbar, die Stellung der Bildenden Künste im Gesamtzusammenhang der (visuellen) Kommunikation in den Blick zu bekommen. Dabei gelang es, sowohl die Produktion als auch die Re-zeption sowie die Veränderung der Wahrnehmung durch die techni-schen Medien genauer zu bestimmen. Der historische Abstand zwi-schen den dreißger Jahren, in denen Benjamin die verschiedenen Fassungen des Textes schrieb, und heute konnte die Geschichtlichkeit der Entwicklungen deutlich machen. Die Prüfungen fielen überdurchschnittlich gut aus.

Zur Aktualität Walter Benjamins

1972 gab Siegfried Unseld unter diesem Titel im Suhrkamp-Verlag einen Sammelband zum 80. Geburtstag Benjamins heraus (Unseld 1972). Benjamin, der in den 50er Jahren nur einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern und Freunden bekannt war, war im Verlauf der Studentenbewegung der sechziger Jahre als marxistischer Theoretiker entdeckt worden. Ende der siebziger Jahre, im 'deutschen Herbst't schien dann schon "das Ende der Benjamin-Renaissance" gekommen (Fuld 1979), doch parallel zum nachlassenden Interesse am Marxisten Benjamin begann der Ruhm und die Bedeutung des Autors in den Diskursen zur Kunst- und Medientheorie zu wachsen. Dabei kommt bis heute dem Kunstwerkaufsatz eine besondere Wichtigkeit zu.

Diese zunehmende Bedeutung des Essays könnte allein schon für eine intensive Beschäftigung mit den sperrigen, oft schwer verständlichen Bildern und Sätzen Benjamins sprechen, zumal sie den KollegiatInnen die Möglichkeit bietet, ihre bis dahin erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Analyse von Kunst und Massenmedien einzubringen. Darüber hinaus aber bietet Benjamins Text vielfältige Anknüpfungspunkte für verschiedenartige Interpretationen historischer und gegenwärtiger Phänomene, die in der besonderen Denkstruktur des Autors begründet sind. Gertrud Koch hat anhand von Briefen Benjamins über den entstehenden Kunstwerkaufsatz, dessen Ziel und Bedeutung der Autor unterschiedlichen Adressaten gegenüber unterschiedlich darstellte, auf die Vieldeutigkeit des Essays als sein Spezifikum hingewiesen (Koch 1992, 37).

Diese Vieldeutigkeit, die aus der bildhaften Sprache und der Verknüpfung ganz unterschiedlicher Denksysteme (hermeneutische Interpretationsmethode, Kabbala, dialektischer Materialismus) resultiert, bietet offenbar immer wieder neue Anknüpfungsmöglichkeiten. Dies bezeugt die wachsende Rezeption von Benjamins Denken durch KünstlerInnen wie etwa R.B. Kitaj und Joseph Kosuth und durch WissenschaftlerInnen und KritikerInnen in und außerhalb Deutschlands. Die sich exponentiell vermehrende Literatur über Benjamin (vgl. dazu Witte 1992, 148ff; Scheurmann 1992) zeigt , daß aus dem marxistischen Kunsttheoretiker, als der er nach 1967 rezipiert worden war, der der allgegenwärtige Medienästhetiker und der "Theoretiker der Moderne" - so der Untertitel der Berliner Ausstellung "Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte" (Werkbund-Archiv 1990) - geworden ist.

Aus der Vieldeutigkeit des Textes resultierte für KollegatInnen die Möglichkeit, eigene Perspektiven auf Kunst und technische Medien zu entwickeln - zumindest, wenn die ersten Verständnishürden genommen sind. Nach diesen anfänglichen Schwierigkeiten fing es offenbar auch zunehmend an Spaß zu machen, entweder Benjamin selbst im Gefolge neuerer Koryphäen zu "widerlegen", oder aber diesen nachzuweisen, daß sie den Text ungenau gelesen haben. In den Kursen haben wir uns insbesondere mit der Position des Kunsthistorikers Werner Hofmann (1988) auseinandergesetzt. Ähnlich kontrovers zu diskutieren ist die kürzlich erschienene Attacke auf den Kunstwerkaufsatz von Henning Ritter (1995), der die Auffassung vertritt, daß "es bis heute eine Hemmung zu geben" scheine, "die so offenkundigen Irrtümer der Benjaminschen Thesen auszusprechen und nach einer Erklärung dafür zu suchen, daß der große Mann sich so offensichtlich verstiegen hat." (Ritter 1995, 58).

Ein zentraler Kritikpunkt ist bei Hofmann und in seinem Gefolge auch bei Ritter Benjamins These vom Verlust der Aura des Kunstwerks durch seine Reproduzierbarkeit. Die Allgegenwart der Reproduktion führe nicht, wie Benjamin meine, zum Verschwinden des "Hier und Jetzt" und der Einmaligkeit - der Aura - des Originals, sondern gerade zu einem besonderen Kult des Echten und des originalen Werks. Unberücksichtigt bleibt dabei die von Benjamin im dritten Kapitel seines Essays analysierte Veränderung menschlichen Sinneswahrnehmung im Verlauf größerer historischer Zeiträume. Schon in "Kleine Geschichte der Photographie" (1931) hatte Benjamin in diesem Zusammenhang mit wenigen Sätzen den Wandel "der Auffassung von großen Werken" charakterisiert, der "mit der Ausbildung reproduktiver Techniken" parallel laufe. Diese könne man nicht mehr "als Hervorbringungen Einzelner ansehen; sie sind kollektive Gebilde geworden, so mächtig, daß, sie zu assimilieren, geradezu an die Bedingung geknüpft ist, sie zu verkleinern. Im Endeffekt sind die mechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstechnik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad von Herrschaft über die Werke, ohne welchen sie gar nicht mehr zu Verwendung kommen." (Benjamin 1963, 88). Die Scharen, die zu Michelangelos David in die Florentiner Akademie, in den Louvre zur Mona Lisa oder zu Ausstellungsereignissen wie der Vermeer-Ausstellung in Den Haag pilgern, können sich von dieser durch die massenhaften Reproduktionen produzierten Verkleinerung nicht mehr frei machen. Das Kunstwerk ist zu einer Art "Star" geworden. Der heutige Kult des Originals ähnelt dem von Benjamin beschriebenen "Starkultus", mit dem der Film auf das "Einschrumpfen der Aura mit dem künstlichen Aufbau der personality außerhalb des Ateliers" antworte (Benjamin 1963, 32).

Für die Theorie ästhetischer Erziehung ist es an der Zeit, Benjamin wieder neu zu entdecken (vgl. dazu auch Schuhmacher-Chilla 1995). Benjamins Grundthese, daß sich die menschliche Wahrnehmung im historischen Prozeß verändert, und daß diese Änderungen sich auch an der Kunstproduktion und -rezeption verfolgen lassen, könnte für eine Fachdidaktik, die nicht nur historische und zeitgenössische Kunst sondern auch virtuelle Realitäten, Cyberspace, Internet und Mailboxen einbezieht, eine wichtige Grundlage bilden. Ästhetische Erziehung in der Schule muß heute ein Bewußtsein vom Wandel menschlicher Wahrnehmung vermitteln und die Entwicklung der technischen Medien sowie deren Rückwirkung auf die Wahrnehmung, auf die historische Kunst und auf die aktuelle Kunstpraxis und Medienproduktion berücksichtigen. Nur so kann es gelingen, die zunehmende Enthistorisierung und Entkontextualisierung der Bildwelten durch Massenmedien und Reproduktionen infrage zu stellen.

(Vollständig abgedruckt in BDK Mitteilungen, Fachzeitschrift des Bundes Deutscher Kunsterzieher e.V., Nr. 4/1996 - Weggelassen wurden hier die Unterrichtsbeispiele.)

Literatur

Below, Irene: Ästhetische Erziehung als Bestandteil der allgemeinen Ausbildung am Oberstufen-Kolleg. In: Schulprojekte der Universität Bielefeld, Heft 5, 13-85, Stuttgart, 1974.

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1. Auflage als Taschenbuch (mehrfach neu aufgelegt), Frankfurt, 1963.

Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 1. Fassung. In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften I.2, Hg. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt, 1980.

Berger, John u.a.: Sehen - Das Bild der Welt in der Bilderwelt, 1. Auflage, Reinbek, 1974.

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Kindlers Literaturlexikon XII, Sp. 10748/749, 1974.

Fuld, Werner: Walter Benjamin. Zwischen den Stühlen, München 1979.

Hofmann, Werner: Die Allgegenwart des Kunstwerks, Kritische Anmerkungen zu Valéry und Benjamin. In: FAZ, 7. Mai, 1988.

Koch, Gertrud: Kosmos im Film. Zum Raumkonzept von Benjamins "Kunstwerk"- Essay, in: Weigel, Sigrid (Hg.): Leib- und Bildraum. Lektüren nach Benjamin, Köln, Weimar, Wien 1992, 34-48.

Ritter, Henning: Ceci n´est pas un baiser. Über die Vergeblichkeit der Revolution der modernen Kunst. In: Die Zukunft der Moderne, Kursbuch 122, Berlin 1995, 52-60.

Schumacher-Chilla, Doris: Ästhetische Sozialisation und Erziehung. Zur Kritik an der Reduktion von Sinnlichkeit, Berlin 1995.

Unseld, Siegfried (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt 1972.

Werkbund-Archiv in Zusammenarbeit mit dem Museumspädagogischen Dienst Berlin (Hg.): Bucklicht Männlein und Engel der Geschicht. Walter Benjamin. Theoretiker der Moderne, Ausstellungsmagazin, Berlin 1990.

Witte, Bernd: Walter Benjamin mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt, 4. Aufl., Reinbek, 1992.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Klausurthema (Anlage 1)

 

Original und Reproduktion: Welche Folgen haben Reproduktionstechniken für die Kunst und die Kunstwahrnehmung?

 

Arbeitsmaterialien:

 

Text 1: Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, 2. Kapitel, Auszug

 

Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. Dahin rechnen sowohl die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat, wie die wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag. Die Spur der ersteren ist nur durch Analysen chemischer oder physikalischer Art zu fördern, die sich an der Reproduktion nicht vollziehen lassen; die der zweiten ist Gegenstand einer Tradition, deren Verfolgung von dem Standort des Originals ausgehen muß.

Das Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus. Analysen chemischer Art an der Patina einer Bronze können der Feststellung ihrer Echtheit förderlich sein; entsprechend kann der Nachweis, daß eine bestimmte Handschrift des Mittelalters aus einem Archiv des fünfzehnten Jahrhunderts stammt, der Feststellaung ihrer Echtheit förderlich sein. Der gesamte Bereich der Echtheit entzieht sich der technischen - und natürlich nicht nur der technischen - Reproduzierbarkeit. Während das Echte aber der manuellen Reproduktion gegenüber, die von ihm im Regelfalle als Fälschung abgestempelt wurde, seine volle Autorität bewahrt, ist das der technischen Reproduktion gegenüber nicht der Fall. Der Grund ist ein doppelter. Erstens erweist sich die technische Reproduktion dem Original gegenüber selbständiger als die manuelle. Sie kann, beispielsweise, in der Photographie Ansichten des Originals hervorheben, die nur der verstellbaren und ihren Blickpunkt willkürlich wählenden Linse, nicht aber dem menschlichen Auge zugänglich sind, oder mit Hilfe gewisser Verfahren wie der Vergrößerung oder der Zeitlupe Bilder festhalten, die sich der natürlichen Optik schlechtweg entziehen. Das ist das Erste. Sie kann zudem zweitens das Abbild des Originals in Situationen bringen, die dem Original selbst nicht erreichbar sind.

 

Text 2: Zum Standort von Michelangelos David

 

Michelangelo hatte 1501 mit der Arbeit am David begonnen, allerdings hatte er damals noch den Auftrag, die Statue für einen Strebepfeiler am Domchor anzufertigen. 1503 wurde in den Gremien der Stadt beraten und 1504 der Beschluß gefaßt, die Statue zur Piazza della Signoria zu überführen und vor dem Rathaus aufzustellen.

 

Von dort wurde sie 1873 in die Akademie der Schönen Künste in einen eigens dafür gebauten Saal gebracht. Auf dem neu angelegten Piazzale Michelangelo wurde gleichzeitig eine in Bronze gegossene Kopie aufgestellt. Da die Florentiner einen Ersatz vor dem Palazzo Vecchio wünschten, wurde dafür 1910 eine weitere Kopie aus Marmor angefertigt.

 

 

Aufgabenstellung:

 

Erläutere anhand des Textes Benjamins Vorstellungen von den Unterschieden zwischen Original, manuellem und technisch reproduziertem Kunstwerk und die Folgen, die insbesondere die technische Reproduzierbarkeit für die Kunst und die Kunstwahrnehmung hat.

 

Konkretisiere diese Überlegungen anhand der vorgelegten Bilder.

 

Was hat sich in den 60 Jahren, seit Benjamin seine Thesen geschrieben hat, verändert? In welcher Hinsicht würdest Du seine Thesen heute korrigieren und/oder erweitern?

 

 

Abb. 1: Michelangelo (1475 - 1564), David, Foto der Originalstatue in der Akademie der Schönen Künste, Florenz, Marmor, 5,15 m hoch (einschließlich Standplatte), Fotokopie schwarz-weiß nach der Reproduktion in: Ludwig Goldscheider, Michelangelo, Köln 1964, Abb.19

Abb. 2: Cover der Taschenbuchausgabe von Mary McCarthy, Florenz Venedig, (1973), Farbkopie

Abb. 3, 4: Postkarten des David, 80er Jahre, Farbkopien

Abb. 5: Werbung für italienische Leuchten, 1988, Fotokopie schwarz-weiß

Abb. 6: Werbung für Adig Investment, Spiegel 16/1994, Fotokopie schwarz-weiß

Abb. 7: Zeitungsausschnitt aus: die taz, 20.3.1994, Fotokopie schwarz-weiß

 

 

Themenschwerpunkte für die mündliche Prüfung (Anlage 2)

 

1. Die Themen für die mündliche Prüfung haben eine dem Klausurthema vergleichbare Struktur

a) Themenstellung (Überschrift):

gibt die Frage/das Problem an, um die/das es geht, zu der/dem Ihr was sagen sollt

b) Arbeitsmaterialien:

Kürzere Textstelle von Benjamin oder Berger und/oder evtl. auch Hofmann, dazu 2, 3 oder mehr Abbildungen mit Erläuterungen

c) Aufgabenstellung:

Präzisierung der Schritte, in denen Ihr die Fragestellung bearbeiten könnt:

ich schreibe auf, welches Vorgehen ich für sinnvoll halte.

 

In der Prüfung geht es um drei Arten von Leistungen:

1. kognitives Wissen und methodische Fähigkeiten,

2. Fähigkeit, Gelerntes auf neue Sachverhalte zu übertragen,

3. eigenes Urteilsvermögen (dazu könnte ich jeweils fragen, ob ihr den an Benjamin erarbeiteten Aspekt bzw. Benjamins Analyse heute noch für aktuell haltet).

 

2. Ich kann mir bisher folgende Themenkomplexe vorstellen:

 

A: Technische Reproduzierbarkeit in Schüben, Beschleunigung (Kap I in Benjamin).

Folgende Fragen könnten an Beispielen aus der Kunstgeschichte diskutiert werden:

- Für wen wurde was wann reproduziert? (z.B. Stadtansichten oder Porträts, überhaupt Darstellungen der gegenständlichen Welt; Kunstreproduktionen)

- die verschiedenen Techniken und die Ersetzung der Hand durch die Maschine,

- die dadurch bewirkte Schnelligkeit und ihre Folgen.

 

B. Folgen der technischen Reproduzierbarkeit für die alte und neue Bildende Kunst (Kap II, III in Benjamin, Hofmann-Artikel, Berger Kap.1 und 7)

Aspekte:

- Unterschied zwischen manueller und technischer Reproduktion (z.B. Original des David in der Florentiner Akademie, manuelle Kopien auf Piazzale Michelangelo und vor dem Palazzo Vecchio, Kunstpostkarten; manuelle und technische Kopien der Mona Lisa)

- Wie ändert sich die Wahrnehmung des Originals durch massenhafte Reproduktion? (Verlust der Aura, wie Benjamin meint, oder Steigerung der Aura, wie Hofmann und manche im Kurs meinten?)

- Kunstreproduktionen in der Werbung (warum so oft benutzt, was passiert mit den Werken?)

- Wie reagieren moderne Künstler von Marcel Duchamp bis Warhol und Timm Ullrichs auf die Tatsache der massenhaften Reproduzierbarkeit ?

 

Mögliche Ausgangsbeispiele:

Leonardo da Vinci, Mona Lisa (ganz gute knappe Analyse in Ernst H. Gombrich, Die Geschichte der Kunst, Stuttgart 19925) Die Mona Lisa eignet sich besonders gut, weil es außer dem Gebrauch durch KünstlerInnen viele Umfunktionierungen und Werbungen gibt.

Leonardo da Vinci, Abendmahl

Botticelli, Geburt der Venus

Michelangelo, Sixtinische Kapelle, Erschaffung Adams (Gombrich)

Michelangelo, David (die ganze Geschichte des David, der Standortänderungen, der Kopien usw. findet man gut dargestellt in: Guido Boulboulé, Florenz - ein Reisebuch, Frankfurt 1982).

Eduard Manet, Frühstück im Freien oder Olympia.

 

Weitere Beispiele können wir noch überlegen, wenn Ihr Werke besonders gut kennt (also deren Vorgeschichte, Tradition usw.).

 

Weiterführende Literatur insbesondere zum Verhältnis von Kunst und Werbung (wenn ihr noch Zeit und Lust habt, was anzugucken): U. Geese, H. Kimpel (Hg.), Kunst im Rahmen der Werbung, Marburg 1982; und ein Aufsätzchen von mir: I. Below, "In die könnt' ich mich verlieben" - Kunstschichte in der Schule - ein verlorenes Terrain, in: Kunsthistoriker III, 1986, S. 6-12.

 

C. Kultwert und Ausstellungswert (Kap. V)

Das was wir besprochen haben, läßt sich gut an den Rückgriffen moderner KünstlerInnen auf außereuropäische Kunst diskutieren - z.B. an der Rezeption "primitiver" Kunst durch Expressionisten wie Nolde und Kirchner, von DadaistInnen wie Hannah Höch. Vielleicht habt ihr noch Vorkenntnisse aus einem der vorangegangenen Kurse bei E.S..

 

Die in der Kunstgeschichte seit etwa zehn Jahren verstärkt geführte Debatte um den sogenannten Primitivismus erscheint unter dieser Fragestellung in einem neuen Licht - vgl. dazu als ersten Überblick Karl Schawelka, Das Primitive als Kulturschock, in: Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst 2, Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek 1991, 218 - 236.

Sonst könnte ich in der Literatur weitere Beispiele suchen - einerseits akutelle zum Umgang mit Kunst von Aborigines oder aus Afrika (z.B. in Kunstforum International 122), andererseits historische in dem dicken Ausstelllungskatalog William Rubin, Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts, München 1994

Ich finde,das ist nicht ganz einfach, aber interessant.

 

D. Was macht der Dadaismus mit der Kunst? - Zertrümmerung der Aura durch Schocks und Skandale (Kap. XIV)

Hier könnten zu den von Benjamin genannten Beispielen weitere kommen - Ausstellungsinszenierungen der Dadaisten, die veranschaulichen, wie sie schon durch Hängung und Präsentation dem auratischen Charakter der Kunst entgegenwirken (zu finden in: Hanne Bergius, Das Lachen Dadas, Gießen 1989), und schon vorhandene Kunstwerke, die sie durch Eingriffe verändern - am bekanntesten ist Duchamps korrigierte Mona Lisa.

Die Strategien der Dadaisten beim Umgang mit historischer Kunst könnten mit neueren künstlerischen Formen des Zitierens bzw. Benutzens vorhandener Kunst verglichen werden - z.B. mit Andy Warhol.

 

E. Gemälde - Foto - Rolle der Unterschrift/Beschriftung; Versenkung versus

Zerstreuung; Rezeption durch einzelne versus Kollektivrezeption (Kap V, XII, XV)

Das haben wir im Kurs einerseits am Beispiel von Tschernobyl, andererseits im Vergleich von Atgets Fotos mit Gemälden van Goghs diskutiert. Benjamins These vom "Tatort", der durch die Beschriftung kenntlich gemacht werden muß, läßt sich gut an der Geschichte der Pressefotografie bis zur Bildzeitung erklären (vgl. dazu Giséle Freund, Fotografie und Gesellschaft, München 1976 - bei rororo wieder neu aufgelegt).

Spannend ist auch der Vergleich derselben Fotografie oder vergleichbarer Fotografien in unterschiedlichen Kontexten, d. h. mit unterschiedlichen Beschriftungen in verschiedenen Zeitungen/Zeitschriften.

 

F. Fotografie (und Film) als künstlerische und zugleich wissenschaftliche Abbildungsmethoden ähnlich wie in der Renaissance die Malerei (Kap. 13; etwas anders in Benjamins Essay, Kleine Geschichte der Fotografie)

 

Möglichkeiten:

Vergleich von Naturdarstellungen Leonardos oder Dürers mit Fotos wie denen von Karl Bloßfeld in Urformen der Kunst, mit Bewegungsdarstellungen in Zeitlupe oder mit Chronofotografien (Muybridge,Marey), aber auch mit wissenschaftlichen Fotografien vom Röntgenbild über Ultraschallbilder bis zu Abbildungen mit dem Elektronenrastermikroskop - Beispiele findet man in allen Fotogeschichten, z. B. Helmut Gernsheim, Die Fotografie, Wien, München 1971 und in populärwissenschaftlichen Büchern und Zeitschriften.

 

An solchen Beispielen könnte Benjamins Themse erläutert werden, daß Foto und Film das optisch Unbewußte sichtbar mache analog zur Psychoanalyse, die das triebhaft Unbewußte aufdecke. Zu diskutieren wäre, wie durch neue Abbildungstechniken unsere Auffassungen geprägt, verändert und neu strukturiert werden.

 

Diese Fragen können allgemein an Pflanzen- oder Bewegungsdarstellungen erörtert werden oder an einem aktuelleren Thema - z.B. der Abbildung von Föten im Mutterleib vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, vgl. dazu Barbara Duden, Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben, Hamburg 1991 und den nicht sehr langen spannenden Aufsatz von Verena Krieger, Der Kosmos-Fötus. Neue Schwangerschaftsästhetik und die Elimination der Frau, in: Feministische Studien Jg. 13, 1995, Heft 2, 8-24.

 

 

Beispiele für mündliche Prüfungsthemen (Anlagen 3.1 und 3.2)

 

Thema: Sind Benjamins Kategorien "Kultwert" und "Ausstellungswert" brauchbar für die Kunstrezeption?

 

Arbeitsmaterialien:

 

Text 1: Walter Benjamin, Auszug aus dem Kapitel "Kultwert und Ausstellungswert", 1. Fassung

 

Es wäre möglich, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst dazustellen und die Geschichte ihres Verlaufes in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert. Die künstlerische Produktion beginnt mit Gebilden, die im Dienst der Magie stehen. Von diesen Gebilden ist einzig wichtig, daß sie vorhanden sind, nicht aber daß sie gesehen werden. Das Elentier, das der Mensch der Steinzeit an den Wänden seiner Höhle abbildet, ist ein Zauberinstrument, das er nur zufälltig vor seinen Mitmenschen ausstellt; wichtig ist höchstens, daß es die Geister sehen. ...Mit den verschiedenen Methoden technischer Reproduktion des Kunstwerks ist dessen Ausstellbarkeit in so ungeheurem Maße gewachsen, daß die quantitative Akzentverschiebung zwischen seinen beiden Polen ähnlich wie in der Urzeit in eine qualitative Veränderung seiner Natur umschlägt. Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, das man als Kunstwerk gewissermaßen erst später erkannte, so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, dessen uns bewußte, die "künstlerische" man später gewissermaßen als eine rudimentäre erkennen wird.

 

Text 2: Luisa Francia, Susanne Wenger, Priesterin im Yoruba-Land, in: Kunstforum International 1993, Bd. 122, S. 154 (Auszug)

Abb. 1: Emil Nolde (1867-1956), Exotische Figuren II, 1911, Öl auf Lwd., 65,5 x 78 cm

Abb. 2: Katchina-Puppe, Hopi, Arizona, 19. Jh., Holz bemalt, Höhe 24 cm

Abb. 3: Abbildungsseite mit Werken von Susanne Wenger und afrikanischen Künstlern, ebenda S. 156

 

Erläuterung zu den Abbildungen:

Nolde hat nach eigenen Worten nach der "absoluten Ursprünglichkeit, dem intensiven, oft grotesken Ausdruck von Kraft und Leben in allereinfachster Form" gestrebt (Jahre der Kämpfe, 1934). Dies fand er in außereuropäischen Kunstwerken, die er seit 1910/11 im Berliner Völkerkundemuseum für sein geplantes Buch "Kunstäußerungen der Naturvölker" abzeichnete. Auf mehreren Bildern kombiniert Nolde Kunstwerke aus unterschiedlichen Kulturen. Er war offenbar der erste, der neben afrikanischer Kunst auch indianische Kunst beachtete. Nicht nur bei der Katchina-Puppe sondern auch bei den beigefügten Katzen folgt Nolde einem Vorbild - einer Katzendarstellung von Indianern aus Südamerika.

 

Aufgabenstellung:

Erläutere anhand des vorliegenden Textes Benjamins Vorstellung von den beiden Polen, innerhalb derer sich für ihn die Geschichte der Kunst abspielt.

Beschreibe, wie Nolde in seinem Bild mit außereuropäischer Kunst umgeht, erläutere die Gründe für die Hinwendung Noldes und anderer Künstler der Klassischen Moderne zum "Primitivismus" und stelle dar, ob und inwiefern Dir Benjamins Kategorien brauchbar erscheinen.

Vergleiche Noldes Position mit der Susanne Wengers und skizziere, welchen Umgang mit sogenannter primitiver Kunst Du heute für angemessen hältst.

 

Thema: Zum Verhältnis von bildender Kunst und Wissenschaft in der Renaissance und im 20. Jahrhundert und zur Funktion von Bildern für die Interpretation von Wirklichkeit.

 

Text 1: Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Fotografie (1931), Auszug

 

Es ist eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt. Ist es schon üblich, daß einer, beispielweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, sich Rechenschaft gibt, so weiß er bestimmt nichts mehr von ihrerHaltung im Sekundenbruchteil des Ausschreitens. Die Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse.

Im Kunstwerkaufsatz führt Benjamin diesen Gedanken weiter und schreibt:

 

Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander-fielen, als identisch erkennbar zu machen. Suchen wir in dieser Situation eine Ana-logie, so eröffnet sich eine aufschlußreiche in der Renaissancemalerei. Auch da begegnen wir einer Kunst, deren unvergleichlicher Aufschwung und deren Bedeu-tung nicht zum wenigsten darauf beruht, daß sie eine Anzahl von neuen Wissen-schaften oder doch von neuen Daten der Wissenschaft integriert. ...

Abb.1: Leonardo da Vinci (1452-1519), Männliche und weibliche Genitalien und Seitenansicht einer Frau in früher Schwangerschaft, Federzeichnung aus einem Manuskript, 19 x 13 cm, um 1504-1509

Leonardo da Vinci gewann durch anatomische Studien an Leichen, die er sezierte, Kenntnisse über menschliche Körper, die er mit theoretischen Annahmen verband und in Zeichnungen umsetzte. Auf dieser Zeich-nung vergleicht er oben rechts und unten links die weiblichen und die männlichen Fortpflanzungsorgane (von den Eierstöcken führt ein hypothetischer Gang zum Uterus - eine vermutete Analogie zum männlichen Samenleiter), unten rechts zeigt er eine Frau im frühen Stadium der Schwangerschaft (Uterus hinter einer vergrößerten Blase).

Abb.2: Leonardo da Vinci, Der Fötus im Uterus, Federzeichnung aus einem Manu-skript, 30,5 x 22 cm, um 1510

Leonardo hat offenbar einen ausgewachsenen Embryo seziert. Ob er auch einen Uterus aufgeschnitten hat, ist fraglich, da er die Wand analog zur Gebärmutterwand von Rindern zeichnet. Durch kleine Zeichnungen auf der Seite wird die Analogie zum Aufplatzen einer Samenkapsel deutlich.

Abb.3: Jacob Rueff, Holzschnitt aus dem Hebammenbuch (1538)

Abb.4: Lennart Nilsson, Der Fötus im Uterus, aus: Ein Kind entsteht, 1990, S. 138/139

Abb.5: Lennart Nilsson, ohne Titel (die Entstehung und Entwicklung eines Kin-des), ebenda, S.6/7

 

Erläuterung zu Abb.4 und 5:

Die Aufnahmen des schwedischen Fotografen sind meist mithilfe eines Elektronen- Ra-stermikro-skops hergestellt und nachträglich bearbeitet. Dazu Barbara Duden, in: Der Frauenleib als öffentlicher Ort, Hamburg 1991:

"Was da an Ritzen, Schatten und Fäden dargestellt wird, ist wesentlich kleiner als eine Lichtwelle. In Größenordnungen, die kein Lichtstrahl "erhellen" kann, registrie-ren Elektro-nenbündel Intensitäten, werden Magnetfelder vermessen, deren digitale Anordnung auf dem Bildschrim nie gesehene und durch Licht nicht auflösbare "Oberflächen" darstellen. Das ist nicht Abzeichnen mit Licht, sondern die Schöpfung mit Licht, denn das Objekt wird nicht vom Licht abgezeichnet (photographiert), son-dern aus Licht hergestellt."

 

Aufgabenstellung:

Erläutere Benjamins Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft in der Renaissance und die Parallelen, die er durch die neuen Medien Fotografie und Film gegeben sieht.

Vergleiche die vorgelegten Abbildungen vor diesem Hintergrund und erläutere Unterschiede und Gemeinsamkeiten bei der Herstellung der Abbildungen und in ihrem Aussehen.

Welche Vorstellungen werden durch die Darstellungen vermittelt? Welche Wirkungen könnten Leonardos Zeichnungen einerseits und Nilssons Fotos andererseit (gehabt) haben.

Wie stehst Du zu Benjamins These, daß man durch die Fotografie etwas vom "Optisch-Unbewußten" erfährt? Ist sie auch auf Nilssons Darstellungen anwendbar?

 

 

 

 

 

Dr. Irene Below

Lebenslauf

geboren 1942 als Tochter von Lotte Böckmann und Prof. Dr. Paul Böckmann in Heidelberg, seit 1970 verheiratet mit Dr. Lutz Below, zwei Kinder.

Studium der Fächer Kunstgeschichte, Archäologie, Germanistik und Altphilologie in München, Köln, Berlin, Florenz (Promotionsstipendium des DAAD); Promotion in Kunst-geschichte an der FU Berlin. 1969 wissenschaftliche Tutorin am kunsthistorischen Institut der FU Berlin.

 

Seit 1970 Mitglied der Aufbaukommission Schulprojekte an der Universität Bielefeld, seit 1974 Dozen-tin am Oberstufenkol-leg des Landes NRW an der Universität Bielefeld. Entwicklung des Studiengangs "Künste" am Oberstufen-Kolleg und Mitwirkung an dessen Durchführung und Evaluation.Seit 1985 Beteiligung an der Konzeption und Durchführung eines interdisziplinären Fachs Frauenstudien.

Lehraufträge an der FH Bielefeld, Abt. Design (SS 1971 - SS 1972) und am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin (WS 1989/90).

 

1987 Initiierung des gemeinsamen Forschungsprojekts von Oberstufenkolleg und Interdisziplinärer Forschungsgruppe Frauenforschung (IFF) an der Universität Bielefeld "Im Depot. Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts in der Kunst-halle Bielefeld." Beteiligung an dem Projekt "Dialoge - ästhetische Praxis in Kunst und Wissenschaft von Frauen", Kiel 1989 - 91: Zusammenarbeit mit der Künstlerin Hella Guth (1908 - 1993), Konzeption und Realisation einer Ausstellung von Werken Hella Guths in der Kunsthalle zu Kiel.

1993 - 1994 Konzeption und Durchführung eines Lehrforschungsprojekts in Kooperation mit der Stiftung Bauhaus Dessau, Ausstellung und Ausstellungskatalog "es gab nicht nur das bauhaus. wohnen und haushalten in dessauer siedlungen der 20er Jahre" (Museum für Stadtgeschichte, Dessau 1994).

1992 - 94 in Kooperation mit der Kunsthalle Bielefeld, Historischem Museum Bielefeld, Gleichstellungsstelle, Kulturamt und Volkshochschule der Stadt Bielefeld Konzeption und Durchführung der Reihe FrauenKunstKultur.

Seit Herbst 1994 Lehrforschungsprojekt "Irma Stern" und Kooperation mit der Kunsthalle Bielefeld für eine Irma-Stern-Ausstellung 1996.

 

1987 - 1994 eine Sprecherin der Sektion Frauenforschung in der Kunstwissenschaft im Ulmer Verein, 1988 Gründu-ng der Arbeitsgruppe "Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts" in dieser Sektion (Leitung der AG bis 1992 gemeinsam mit Dr. Margarethe Jochimsen, seit 1992 mit Prof. Dr. Sigrid Schade).

 

Arbeitsschwerpunkte: Kunst der frühen Neuzeit, feministische Kunst- und Kulturwissen-schaft, Künstlerinnen des 20 Jahrhunderts, Siedlungsarchitektur der 20er Jahre, Alltagsästhetik, Kunstwis-senschaftsdidaktik.

 

 

 

Werther, 20.9.1996

 

Lieber Jörg,

 

eigentlich wollte ich die Gelegenheit nutzen und zu Deinem 60. über ein unvollendetes Bilderbuch schreiben, das ich meinem Sohn Michael 1980 zu seinem 5. Geburtstag schenken wollte. Es sollte ihn grundlegend über die eigene Wirklichkeit der technischen Medien aufklären, die er als Dein Fotomodell gerade erfahren hatte.

 

Du hattest einen Auftrag der gerade noch regierenden SPD-FDP-Regierung für einige Fotos in einem Kalender, der in 12 Bildern die moderne Familienauffassung der Koalition - partnerschaftliche Ehe, gemeinsame Sorge für und liebevollen Umgang beider Eltern mit den Kindern - bildlich demonstrieren sollte.

 

Michael und ich sollten anschaulich machen, wie wichtig Lob für ein Kind ist. Drei Mal kamen Gabi und Du zu uns, am Ende gab es viele Negative, schöne Aufnahmen von Lutz und mir, der Wohngemeinschaft, der Kinderladengruppe und auch von Dir und Gabi. Auch das Foto zum Thema "Lob" war fertig, aber mit der "Realität" hatte es nicht mehr viel zu tun - es war ein inszeniertes Foto geworden. Michael hatte extra ein Bild gemalt, für das er auf dem Foto gelobt wurde, allerdings nicht von mir, sondern von Gabi. Sie paßte als blonde junge Frau viel besser zu dem Kind als ich....

 

Das Fragment des geplanten Bilderbuchs gibt es noch - einen roten Ordner mit ersten Texten zu den verschiedenen Besuchen und vielen Fotos. Das Aufklärungsbuch im Stil der 70er Jahre ist es nicht geworden. Doch die ganze Geschichte hat mich begleitet und ist für mich ein Beleg für das eigenständige Leben der Bilder geblieben. Ein Foto aus der Serie, die du damals aufgenommen hast, - die Kleinfamilie Irene und Lutz und die beiden Kinder Michael und Till - hängt schon seit langem bei uns gerahmt an der Wand. Da hing es auch, als Lutz und ich mehrere Jahre getrennt waren. Vielleicht hat die als Bild präsente Erinnerung an eine gemeinsame Zeit mit dazu beigetragen, daß wir wieder zusammen gekommen sind.

 

Meine in den letzten Jahren wieder aufgenommene Beschäftigung mit Walter Benjamin und mit seiner These, daß die Fotografie das optisch Unbewußte sichtbar mache, so wie die Psychoanalyse das triebhaft Unbewußte aufdecke, scheint mir auch in einem Zusammenhang mit dem zu stehen, was ich von dem Fotografen Jörg Boström über meine Wirklichkeit erfahren habe.

 

Viel Spaß bei der Lektüre des Dir zugeeigneten Textes

Irene