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Andreas Beaugrand

Zeitreise mit Jörg

 

Wir fahren von Bielefeld nach Dortmund mit dem alten blauen Volvo, mit höchstens 120 auf der A 2. Jörg fährt, und ich sitze daneben, und das Auto ist durch vollständige Verdunkelung und ein Loch in der Mitte der Frontscheibe als Kamera eingestellt. Die Außenwelt steht innen auf dem Kopf, auch farbig, aber mehr schwarzweiß, wie in einem nächtlichen See, gespiegelt auf den Sitzen. Der Himmel ist die Helligkeit hier und im Fußraum. Die Gegenstände des Autos fliegen im Bild. Das Bild ist ein Triptychon, in der Mitte die Gegenwart, groß und schnell vorbei, links das Kommende und hier noch Unbekannte, rechts das Vergangene. Heute das Projekt in der letzten Zeche Dortmunds, Minister Stein, Fotografie und Geschichte, Dokumentation der sich ein für allemal und dauerhaft verändernden, dann ehemals industriellen Landschaft. Ja, dann werden hier nur noch Rentner rumlaufen, Aktive werden hier wohl kaum noch sein. Gleißend spiegelt sich das Licht in den kohlegeschwärzten Gesichtern, und die Augen sagen, daß das alles jetzt vorbei ist, traurig, und der Vater und Großvater haben hier schon geschuftet, und jetzt machen die zu, und Jörg fotografiert. Endlose dunkle Gänge schimmern schwarz, aber es ist ein ganz scheußliches Gefühl, daß jetzt auf einmal in ganz Dortmund hier herum gar keine Zeche mehr sein soll. Und weil die Kollegen ohne Aufwand und ohne Murren bis zum Schluß malocht haben, kriegen sie jetzt eine Münze. Zuerst in Bövinghausen und dann in Eving sind alle wieder da, Jürgen vor allem, der Freund und Kollege, und Hermine, Detlef und Martin, die alten Schüler. Der letzte Tag, dauerhaft im Bild. Links des Triptychons, das Herankommende, Zukünftige. Zeitbilder ­ schwarz, das ist ein passender Ausstellungstitel, aber das mit dem runden Geburtstag, das lassen wir weg, wünscht sich Jörg und schreibt: Für mich hat das Auge die absolute Mehrheit, ich lebe unter einer Herrschaft des Visuellen. Immer wieder versuche ich, Mauern zu durchlöchern, Grenzen zu verwischen, Getrenntes neu zu verschränken, die Spaltung des Sinnes und der Sinne zu überspielen. Das Sehen der Musik ist die andere Erweiterung meines neuerlichen Zugangs zur Jazzmusik über Fotografien. Formen bilden eine hüpfende Krone, deren Zackenrand in rastloser, zuckender Verwandlung auf keinem Herrscherschädel halten würde. Ich gerate in eine Empfindung des Schwebens wie ein urtümliches Augentierchen im Wasser, das die Welt der Töne und nichts als sie wahrnimmt als Lichtzeichnung in ständiger Bewegung, als Trickfilm eines vom Wahnsinn inspirierten Zeichners. Für Augenblicke tauchen aus dem swingenden Wellenspiel beinahe geschlossene Formen auf, Körperlinien, parallele, dann wieder sich schneidende Wölbungen, heftig erregte Garnknäuel und weiche Sternenbahnen. Stillere Passagen kuscheln sich in der Mitte der Schwärze zusammen, ringeln sich ein, um sich im nächsten Moment in den leeren Raum zu entladen. Ich sehe, daß diese Musik eine ornamentale Kunst ist, welche in immer neuen Variationen um sich selbst kreist, ihre Motive umspielt in zarten, rokokohaften Kalligrafien und explosiven Splitterstrukturen. Und wieder ganz real: Nach Bielefeld zum Ersten ­ Subjektiv: '68 und die Folgen, schreibt Jörg und läßt Kohl zur jungen Wählerin sagen: Nein, was haben Sie für eine hübsche Stimme, und lächelt. In der Stadt Bielefeld aus den 1960er und 1970er Jahren zeichnet sich deutlich das widersprüchliche Gesicht deutscher Geschichte und Gegenwart in der für unser Land charakteristischen Physiognomie ab. Sie bleibt bis zur Stunde schwer verdaulich, diese Mischung, sie bleibt genießbar, ohne sich ganz und konsequent zum Kotzbrocken zu entwickeln. Provinzialität als Qualität attestiert Jörg seiner Arbeitsstadt und erinnert sich an die 1980 von Bielefelder Kunstverein und Gildenhaus organisierte Ausstellungsreihe, bei der Künstler in Bielefelder Betrieben ausstellten und den Mitarbeitern Rede und Antwort standen. Aufgeklärte Linke und traditionsverhaftete Bürger, Sozial-Demokratie schon im Projekttitel: Künstler werden Werktätigen vorgestellt. Es ist paradox, daß das Streben nach immer mehr Rationalität zu nichts anderem führt als zu steigender Irritation. 1989 mahnt der steinerne Prometheus an industrielle Vergangenheit und potentielle soziokulturelle Zukunft, die im Keim erstickt wurde, weil die Wende alles wendet, selbst die ungeliebte Rede an den Herforder Rat. Theo bestellt Cassis, regelt Formales, und im Fachbereich lösen sich derweil zunächst die Debatten und dann die Sitzungen in Wohlgefallen auf, selbst wenn Querelen nicht nur in der Theorie Mode bleiben und der spätere Dekan das alles mit stoischer Gelassenheit und Gottfried, Jürgen, Kalle und den anderen regeln wird. Mit dem Objektiv läßt sich besser Geschichte schreiben. In Bildern ist sie klarer und verständlicher. Kein Maler wäre imstande, auf der Leinwand festzuhalten, was der Fotoapparat sieht, sagt Jörg und zitiert Lenin, denn Fotografie ist die Kunst anschaulicher Publizistik und setzt das fotografierte Thema ins malerische Bild. Das rechte Bild des Triptychons zeigt das Verschwinden. Industriearchitektur in Bielefeld. Geschichte und Fotografie 1984 bis 1986. Architektur in der Kunstgeschichte präsentiert sich uns mit Bildern. Bilder sind Mosaiksteine im Bild von der Welt, das wir uns immer neu zusammensetzen wie ein Puzzle ohne Vorlage, geprägt von Vorurteilen und diese weiter prägend, schreibt Jörg und transformiert die stillgelegte Zeit der Industriewelten ins Foto und in die Malerei. Der Rotwein funkelt. Für die Künste, sagt Jörg und nimmt sein Glas. Artibus seitdem, und die Bilder zeigen Regeneration, Verschleiß des Körpers, von Nerven, Fleisch, Haut. Sich lösen, um zu verstehen. Fließende Existenzen, zerfressen von Verbrauchs- und Reinigungsprozessen. Aus Wasser, Farbe, Öl, Terpentin und Lack gerinnen, entwickeln sich Formen, Gesichter, Körperteile, Gestalten, Keime, Kontakte, protoplasmatische Figurationen aus Wasser, Schlamm und Licht. Papier als Raum, Materialien als Halluzinogene, Gleitbilder mit fotografischer Anmutung. Augengerinsel, schreibt Jörg und hält die von der Krankenkasse teilfinanzierte Kur im Lippischen im Bild fest. Als Pionier muß man der Kunst permanent Grenzgebiete einverleiben. Nach einer Anzahl von Jahren bekommt das dann von selbst Schönheit, sagt Jörg und zitiert Arnulf Rainers Körpersprache. Das Wolfgang Matheuer-Bild für den Maternussaal in Köln ist Körpersprache. Solche Bilder gestalten sich mit sanfter Führung fast von selbst wie eine Fotografie, auf deren Bildprozeß der Künstler mehr beobachtenden als setzenden Einfluß hat, schreibt Jörg und schenkt ein Bild zum Trost. Offenbar fällt es uns schwer, ohne verallgemeinernde, ikonografische Darstellungsweisen im visuellen Bereich zu leben. Bilder mit einer gewissen Zeichenhaftigkeit oder mit Symbolcharakter werden populär, wenn sie in ihrer Wirkung stellvertretend für Millionen stehen. Ich habe ja immer dieses Problem, die Dröhnung durch das Sichtbare, dem ich verfallen bleibe, Kameras mit vielen Verzerrungen und Optiken im Kopf, und eine Hand, die mit dem Auge kurzgeschlossen ist, schreibt Jörg und fotografiert und malt. Fotografien zeigen Ausschnitte der Umwelt, auf malerische Weise irritierend, und vermeintlich Wirkliches ist interpretativ fotografiert, und vermeintlich Gegenständliches wird imaginativ gemalt. Malerei wird zu einem phantasievollen Schritt zwischen künstlerischer Freiheit und dokumentarischer Umsetzung. Das ist eine äußerst individuelle, komplexe, formstarke, phantasievolle, gegenstandsbezogene Malerei, sagt Jörg und zitiert beiläufig aus dem Manifest der Düsseldorfer Künstlergruppe Axiom aus den späten Siebzigern. Die Fotografie kann das sich unentwegt entwickelnde gesellschaftliche Leben, insbesondere die Industrie, in seinen vielen Aspekten zwar dokumentarisch festhalten. Da dieser Prozeß jedoch nicht Halt macht, kommt die Fotografie auch nicht mehr zu länger gültigen Bildergebnissen. Es muß festgestellt werden, daß es mit dem Auftreten von Fotografie keine allgemeingültige unveränderliche Bildnisvorstellung mehr geben kann, sagt Jörg mit Alexander Rodtschenko und ist damit gegen das synthetische Portrait und für den Schnappschuß. Unsere Bilder stimmen mit konventionellen Ansichten von Welt nicht überein, stellt Jörg fest und ihnen seine Fotografien gegenüber. Durch die Geschwindigkeit des alten blauen Volvos bewegen sich die Landschaftskonturen wie Schichten hintereinander und verstärken die Vision. In der Kurve kreiselt das Bild, und das Bild ist das der stetigen Bewegung des Wagens, die erst am Ziel zum Stillstand kommt. Alle Bewegungen werden als solche im Bild festgehalten. Die gewohnten Zusammenhänge zwischen den visuellen und den mechanischen Empfindungen sind gelöst. Das bloße Im-Bild-Sein ist schwerelos und lustvoll. Die unablässige Folge prägnanter Bilder und der Rhythmus in ihrer Bewegung erzeugen einen Gedankenfluß, der unabhängig und leicht seine eigene Strecke ablegt: Jörg ist 60 geworden. Wenn Du einmal Zeit und Ruhe findest für ein weiteres Glas Rotwein, bist Du hiermit herzlich eingeladen.