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Kultur-Kult?-Kultur

Versuch eines Gesprächs im Internet

Je allgemeiner ein Begriff, desto schwieriger wird eine Diskussion darüber und fast unmöglich erscheint mir, einen interessanten Text darüber zu schreiben. Zu unserer gegenwärtigen Kultur, was immer das ist, gehört der Dialog im Netz, im Internet. Ich versuche hier, diese Kulturpraxis anzuwenden, um mir selbst bei der Frage zu helfen, was ist eigentlich Kultur-was ist die "unsrige", was ist die "fremde". Freunde helfen mit bei der Peilung.

Ich beginne Samstag, den 16. Dezember,09:54:

Da ich nicht weiss, was Kultur ist, mache ich mich kundig. Im Duden-Fremdwörterbuch steht zunächst:

Kult, lat. Pflege - das wusste ich wirklich noch nicht- aber das Kultivieren im Garten, an der Frisur, bei Kontakten mit Freunden nennt man ja in der Tat pflegen. Dann weiter: kultur: die Gesamtheit der geistigen und künstlerischen Lebensäusserungen einer Gemeinschaft, eines Volkes. Wie soll ich etwas schreiben über diese "Gesamtheit"? Dann gibt es noch weiter politische Kultur, Bürgerinitiativen, ( wir wurden damals als Chaoten verschrien!) Wahl, Umweltschutz, kommunale Selbstbestimmung etc. das Infragestellen von üblichen Lebensformen - immerhin, das steht sogar im Duden. Wenn ich also schreibe, male, fotografiere bin ich Teil dieser Gesamtheit - auch mit diesem Text. Dann lese ich in der Zeitung, dass das Kopftuchtragen aus religiösen Gründen in der Schule verboten sei. Als ich meinen zweiten Schwarm bestaunte, damals-1959-wir beide wenig über 20 Jahre alt, trug sie ein schickes Kopftuch- und das neben den Tempelsäulen von Paestum, mehr Kultur geht kaum.. Aber sie trug es nicht aus religiösen Gründen. Knien darf man, vor der Angebeteten - auch aus religiösen Gründen? Ich bete an den Gott der Liebe. Warum ärgert sich die herrschende Kultur heute über ein Kopftuch? Im Internet finde ich 10 Seiten allein zum Thema kopftuch, das nicht getragen oder doch getragen werden darf-aus religiösen Gründen. Bei mir machte einmal eine iranische Studentin eine Prüfung, sehr hübsch war sie ausserdem- auch mit Kopftuch. Darf ein Mensch sich eine Folterszene um den Hals hängen-wohl nicht, es wäre vielleicht eine Aufforderung zum sadistischen Akt - aber aus religiösen oder auch dekorativen Gründen eine zu Tode gekreuzigte Gestalt? Im Namen unserer Religion, die sich diesen Brauch erdachte, hat man viel gefoltert. Die Menschen waren wohl abgebrüht durch den täglichen Anblick des geschundenen Körpers.

Annette Bültmann ist Fotografin und Webdesignerin. Sie schreibt ins Diskussionsforum am Samstag, den 16. Dezember, 09:58

Das Kultur-Thema finde ich sehr interessant. Auch wie die Menschwerdung mit Entstehung von Kunst und Kultur zusammenhängt, und ob man sagen kann, dass Kunst eins der speziell menschlichen Merkmale ist, die uns dann vielleicht doch vom Tier unterscheiden. Dann noch der Zusammenhang der Worte Kultur und Kult, Entstehung von Mythen und Religionen, und das Nachdenken über die eigene Existenz als menschliches Thema, auch das im Zusammenhang mit Kunst.

Ich erwidere Samstag, den 16. Dezember,10:03

Vielleicht ist die Kultur doch ein Stück Menschwerdung. Es beginnt mit der Mode, der Verhüllung der zarten Teile, welche allerdings die Ausstreibung aus dem Paradies zur Folge hatte. Diese Paradisbaumblätter waren offenbar das erste modische Kunstwerk. Das Bewusstsein, dass man sich schämt, führt zur Kultur, das Gefühl, dass man nicht einfach mit sich und allem zufrieden ist, dass man gerade nicht mit der Natur übereinstimmt. Für mich beginnt dies mit der Kunst, den ersten Bildern und Körperabdrucken in den Höhlen. Da beginnt die Grenzziehung zum Tier. Unkultur, das war offenbar ein paradiesischer Zustand - man kommt dem Gegenstand Kultur und seinem Begriff wohl näher über lästerliche und ehrlose Betrachtungen. Auf den Knien ist nicht gut denken. Ich gehöre der sogenannten skeptischen Generation (nach Schelsky) an, die weihevolle Gänsehäute hasst und sie nur den Gänsen zugesteht. Alles Feierliche ist mir suspekt. Wir wurden u.a. erzogen mit dem Spruch: Händchen falten, Köpfchen senken, still an Adolf Hitler denken. Mir grauste später schon als reiferes Kind bei den Pflichtgebetsrunden in der evangelischen Jungschar und später bei den Weiheblicken und heroischen Fäusten der "frommen" ML-Apo, den antroposophischen Steinerjüngern und -mädchen und anderen esoterischen Lichtgestalten.

Kim Boström ist Physiker und Webgestalter. Er meint am Samstag, den 16. Dezember, 10:07:

Kultur ist für mich der Kampf gegen die Langeweile.

Sein Vater, erinnert sich: Ein wichtiger Satz für mich während des Studiums stammt von dem Maler Giogio de Chirico:" Nietzsche lehrte uns die tiefere Bedeutung der Sinnlosigkeit des Lebens und wie diese Sinnlosigkeit verwandelt werden könne in Kunst".

Annette fragt sich am Samstag, den 16. Dezember, 10:16

Wieviel wissen wir von frühen Kulturen?

Schamanische Zeremonien kann ich mir vorstellen, für die Masken und Trommeln hergestellt wurden, was aber vielleicht eher unter "Kunsthandwerk" fällt, obwohl ich schon manchmal in Bildbänden sehr interessante Masken gesehen habe. Dann die Höhlenmalerei: es entstanden wechselnde Stilrichtungen, aber sie haben wohl alle etwas zwischen gegenständlicher und abstrakter Darstellung; nicht Natur abbilden wollen sondern vielleicht eher die Kräfte der Natur, vielleicht auch etwas Magisches. Zumindest ist es in meiner Vorstellung ein magischer Moment, als der erste Höhlenmensch bei Fackelschein mit seltsamen Lehm- oder Rußfarben (keine Ahnung was sie wirklich benutzt haben) seine Striche gemalt hat. Dann entstehen städtische Kulturen, z.B. in Ägypten, Indien, China, der arabischen Welt, dem Amerika der Maya-Inka-Tolteken-usw.-Zivilisation. Ihre Kulturen haben bei aller Unterschiedlichkeit auch Ähnlichkeiten. Es gibt jetzt mehr Motive, Darstellungen aus dem menschlichen Leben, Alltagsszenen aber auch Zeremonien, Herrscher, Darstellungen von Göttern und ihren Geschichten. Auch das nicht realistisch sondern zumindest anfangs eher flächig, grafisch; zusammen mit der Entstehung der Schriftzeichen. Gleichzeitig werden Tonkrüge und Mauervorsprünge zu Tieren und seltsamen Halbwesen, und es entstehen Skulpturen und Reliefs. Aber was hat sie zu alldem getrieben? Symbolisch hat ihnen ja Prometheus das Feuer gegeben, und kurz davor, danach oder gleichzeitig müssen sie wohl auch die Kunst, die Sprache und die Schrift bekommen haben.

Annette fragt sich weiter am Samstag, 16. Dezember, 16:10

Gibt es eine absolute Kultur?

In der Philosophie gibt es im Bereich der Moral den Begriff "Relativismus", das bedeutet eine Einstellung, welche die Moral abhängig macht von der jeweiligen Zivilisation, Epoche, Region; jede Gesellschaft habe eigene Vorstellungen von Moral und man könne darauf als Aussenstehender keinen Einfluss nehmen, weil es keine übergeordneten Moralvorstellungen gibt. Diese Einstellung wird dann problematisch, wenn es um solche Dinge wie Menschenopfer oder Todesstrafe geht. Im Gegensatz dazu gibt es die Meinung, dass es sehr wohl absolute Moralvorstellungen geben könnte, es nur sehr schwierig sei, sie zu definieren, herauszukristallisieren. Nach welchen Gesichtspunkten soll man das tun? Kann man das auf den Bereich der Kultur übertragen? Gibt es absolute Kultur, Dinge die unabhängig von Gesellschaft oder Zeitalter zum Bereich der Kultur gehören, kann man Kultur irgendwie definieren, kann es wissenschaftliche Methoden geben die uns sagen was Kultur ist? Wie kann man es bewerkstelligen, dass der Begriff Kultur uns weniger neblig erscheint?

Hallo Jörg, dein erster Beitrag ist sehr interessant, der mit der Lexikon-Definition, dem Kopftuch und dem Kreuz-um-den-Hals tragen. Das habe ich mich früher auch mal gefragt, warum Leute, die doch behaupten Gutes zu wollen sowas Schauerliches zu ihrem Symbol gemacht haben und es auch noch tragen, überall aufhängen etc. Inzwischen denke ich, dass unsere ganze europäische Kultur dadurch beeinflusst worden ist, dass sich das Christentum in der Form wie es die Institution Kirche vertritt seit zweitausend Jahren so stark hier verbreitet hat, und dass wir alle deshalb Leiden für etwas Normales halten und nicht für etwas zu Vermeidendes und teilweise Unnötiges. Auch wir, die wir uns vielleicht garnicht unbedingt für Christen halten (ich halte mich jedenfalls nicht dafür), sind davon beeinflusst. Auch die heutige Zeit, in der es ja eigentlich jedem erstmal um sein persönliches Wohlbefinden geht, ist nicht frei davon; es scheint mir eher die Einstellung zu sein: irgendjemand muss leiden, aber Hauptsache es erwischt im Moment gerade nicht mich. Und wieviele fügen sich immer wieder selbst Schaden zu, mich selbst eingeschlossen? Und warum ist dieses Symbol so erfolgreich in seiner Verbreitung? Und warum sehen Menschen so gerne Horrorfilme, Massakerszenen. Gab es nicht in früheren Jahrhunderten öffentliche Hinrichtungen zur Belustigung der Menschenmenge? Vielleicht ist es so verbreitet weil es einen sehr dunklen Teil unserer menschlichen Natur anspricht? Ich weiss es nicht.

Und dann kommen ihr doch Skrupel, ob sie das Christentum nicht zu gnadenlos verrissen hat, am Samstag, den 16. Dezember, um 21:52

Nachdem ich behauptet habe, dass das Christentum zu dunklen Aspekten der europäischen Kultur geführt hat, möchte ich jetzt sagen: es gibt auch positive. Wobei ich gerade selbst das getan habe, worüber ich mich bei Anderen manchmal beklage, dass sie es tun, nämlich dunkel mit negativ und hell mit freundlich, angenehm, positiv gleichzusetzen. Aber das ist ein anderes Thema, vielleicht könnte man damit einen interessanten Kulturvergleich anstellen? Was bedeutet hell und dunkel in den verschiedenen Kulturen? Z.B. das chinesische Yin und Yang soll ja vielfältige Bedeutungen haben; nicht nur männlich -weiblich; vor allem auch keine starren Gegensätze, sondern eher sowas wie "schattige oder sonnenbeschienene Berghänge", das ändert sich ja je nach Tages- und Jahreszeit, wo sie sonnenbeschienen und wo schattig sind, und geht in einem ständigen Rhythmus ineinander über.

Aber jetzt zum positiven Einfluss des Christentums auf die europäische Kultur, so wie er sich mir darstellt: Wenn ich es recht verstehe sollen Starke und Schwache, Gesunde und Kranke, Arme und Reiche, kleine und grosse Geschöpfe vor Gott gleich sein. Jedes Geschöpf leistet irgendwie seinen Beitrag auch wenn wir es nicht unbedingt verstehen; auch wenn wir vielleicht unseren eigenen Beitrag zum Ganzen manchmal nicht richtig verstehen. Vielleicht hat sich das auf die Kunst ausgewirkt, indem sie so eine erstaunliche Vielfalt in ihren Themen, Motiven, Gegenständen entwickelt hat, indem jedes Bild ein ganz eigenes Geschöpf, etwas Gesundes und Krankes, Schönes und Hässliches, Reiches und Armes darstellt, Klöster und Bordelle, Sturmlandschaften und Stilleben, Meditation und Revolution usw. Mit dem Verschwinden der Gegenstände im abstrakten Bereich der Moderne wird die Vielfältigkeit womöglich nur noch grösser. Dazu kommt eine andere für die Kunst günstige Auswirkung -ich kann das Lästern doch manchmal nicht ganz lassen- die Unterdrückung von Trieben in einer Gesellschaft führt eventuell bei glücklichen Umständen dazu, dass diese sich dann in Kunstwerken ihren Weg ans Tageslicht bahnen, und das kann vielleicht der Schaffenskraft ungeahnte Ausdauer verleihen...

Henry Graffmann reagiert auf die Internetdiskussion am Samstag, den 16. Dezember, 22:36. Henry ist Fotograf und selbst in Chile aufgewachsen. Ein umfangreiche Arbeit von ihm dokumentiert das Leben und das Lebensgefühl eines Indianervolkes. Er ist so vom Schicksal gefördert und gefordert und selbst "multikulturell".

Hallo aus Berlin, habe gerade Nachricht von diesem Forum erhalten und hoffe, dass es ein sehr lebendiges wird.

Kultur, Unkultur, Leitkultur, Gartenkultur, Pilzkultur, Streitkultur, Kult, Kultusministerium, abendländische Kultur, Kulturdenkmal, Kulturleistung, Essenskultur. Was man nicht so alles mit dem Begriff Kultur anstellen kann..Kultur scheint ein fragiles Gebilde zu sein. Wer keine hat, ist ausgeschlossen, Außenseiter.

Und doch kann niemand den Begriff in wenigen Worten auf den Punkt bringen. Wir messen uns und Andere und vor allem fremde und vergangene Kulturen an den entsprechenden "Kulturleistungen". Wo, wann und unter welchen Umständen Kultur entstanden ist, wird vermutlich ebenso schwer zu beantworten sein, wie die Frage nach der Menschwerdung. Der unsichtbar und scheinbar magischen Grenze zwischen Affe und Mensch. Dieser Übergang geht einher mit der Bewußtwerdung des Menschen (prima interpretiert von Stanley Kubrick in "2001 Odyssee im Weltall").

Sich selber erkennen als Individuum. Sich selber als solchen zu erkennen, geht immer mit einer Abgrenzung zum Gegenüber oder zum Anderen oder zu einer Gruppe einher. Diese Abgrenzung oder Differenzierung führt zu Festlegungen des Eigenen oder des Gemeinsamen einer Gruppe. Schon haben wir Kultur oder zumindest den Keim dessen, was Kultur ausmacht. Gleichzeitig ist in diesem Erkenntnisprozess auch die Grundlage gelegt für Auseinandersetzungen aller Art. Denn erst die Differenzierung, die Abgrenzung und somit die Ausgrenzung führt zu den uns allzu bekannten schrecklichen Folgen des Menschseins. Die hilflosen Versuche mit Gewalt eine gestörte oder verletzte oder gestörte und verletzte Identität zu retten oder zu etablieren. Nur wenn wir uns unser selbst sicher sind brauchen wir diese Gewalt nicht. Sich selbst sicher in dem Sinne, dass wir kein Problem mit der Realität Anderer haben. Wenn wir sie nicht zertstören müssen um uns unserer selbst gewahr und gewiss zu werden. Übrigens sehe ich, dass uns die "christliche Kultur" wesentlich stärker geprägt hat und nach wie vor prägt, als wir gemein hin bereit sind zu akzeptieren. Ich bin vor zehn Jahren aus der Kirche ausgetreten und fühle mich dennoch als Christ. Christ nicht in dem Sinne wie uns die Institution Kirche sehen will, sondern Christ als jemand, der aufgrund einer 2000 Jahre währenden Kultur nicht von ihr weg kommt und lügen würde wenn er behauptete sich von diesen Wurzeln befreit zu haben.

Was empfinden wir als gut und was als schlecht?

Nach welchen Wertmaßstäben richtet sich diese Einteilung?

Wann fühlen wir uns beschämt?

Wie ist unsere Sprache aufgebaut?

Seien wir ehrlich, es sind vornehmlich christliche Werte, die uns prägen. Ich sage hiermit nicht, dass ich das gut finde. Es ist jedoch erst einmal so und ich habe persönlich gewaltige Schwierigkeiten, mich im von diesen scheinbaren Gegebenheiten zu lösen um eigene Wege zu gehen. Über das Erfolgsrezept der Kirche in den letzten 2000 Jahren und dem Typen am Kreuz rede ich ein ander mal.)

Jetzt bin ich doch etwas müde.

Bin auf eine Antwort gespannt.

Dann ist er doch nicht müde genug, um seinen Gedankengang abzuwürgen noch am Samstag, den 16. Dezember, 22:50

Jetzt muß ich doch noch mal ran. Das Gemeine am Christentum ist doch, daß wir alle von Geburt an zu schuldigen Wesen gemacht werden sollen. Was für eine bodenlose Unverschämtheit. Dann werden wir verdonnert nach Vorstellungen zu leben, die uns noch tiefer in die Schuld treiben müssen. Was uns bleibt ist dann die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits. Somit ist die christliche Religion eine sogenannte "jenseitige Religion". Will heißen, das typische Heilsversprechen wird ins Jenseits verlagert. Sehr praktisch. Von da ist nämlich noch niemand wirklich zurückgekehrt um uns zu berichten wie es dort wirklich ist. Diese Technik der Einschüchterung und der damit entstehenden Abhängigkeit ist eine der echten Perversionen dieser Religion. Der Buddhismus beispielsweise kommt völlig ohne den Schuldbegriff aus, was ich viel netter finde. Ich bin sicher, dass vieles an historischer und noch heute gelebter Gewalt auf dieses Gefühl der Ohnmacht zurückgeht. Ohnmacht vor einer übermächtligen Gottheit, deren Gnade man ausgeliefert ist, da man seinen Gesetzen zu Lebzeiten als normaler Mensch nicht nachkommen kann. Der christliche Religion liegt das zwangsläufige Scheitern der menschlichen Existenz zugrunde, zusammen mit dem endgültig vernichtenden Gefühl ewiger Schuld. Widerlich, einfach Menschen verachtend. Und dennoch hat es der Typ am Kreuz sicher nicht so gemeint, wenn es ihn denn so gegeben hat. Schätze, dass war ein sehr politischer Mensch der auch wusste zu leben.

Annette, die oft nachts arbeitet, antwortet am Sonntag, den 17. Dezember, 04:50

Hallo Henry, Deine Beiträge sind sehr umfassend und interessant. Kann heute erstmal nur kurz antworten, denn es ist schon spät. (Bei Annette heisst spät fast immer, was bei anderen Menschen früh bedeuten würde.) An die Anfangsszene von "2001" erinnere ich mich jetzt auch wieder dunkel, stimmt, da geht es eindeutig um unser Thema. Wenn es aber Kultur immer nur in der Abgrenzung einer Gruppe gäbe, wäre das eine Antwort auf meine Frage, ob es absolute, von der jeweiligen Zivilisation unabhängige Merkmale von Kultur gibt - das müsste man dann wohl verneinen. Aber gibt es nicht auch weltweite Gemeinsamkeiten? Zumindest haben alle Kulturen eine Malerei, eine Schrift, Skulpturen und Musik entwickelt. Aber was genau sich da entwickeln würde ohne den Einfluss der jeweiligen Gruppe oder Gruppen, um das herauszufinden wäre wohl eine Art Kaspar-Hauser-Experiment denkbar - nur als Gedankenexperiment, aber nicht durchführbar. Morgen mehr.

Henry wartet nicht mit dem Kaffee am Sonntag,

den 17. Dezember, 10:06

Hallo Annette, noch ein paar kurze Gedanken vor dem Frühstück.

Der Gedanke der Abgrenzung ist nun mal leider eher negativ behaftet. Wie so oft, hat auch diese Münze zwei Seiten. In der entstehenden Gemeinsamkeit finden wir ja auch das Positive. Ich denke schon, dass "Gemeinsamkeit", in einer Gruppe, einem Volk, die äußeren Bedingungen für das Entstehen von Kultur ist. Ich muß dabei ganz stark an Elias Canettis Buch "Masse und Macht" denken, wo diese Gruppenstrukturen beleuchtet werden, mit all der möglichen positiven wie negativen Dynamik. Sicherlich gibt es unabhängige Merkmale von Kultur. Immerhin sind die Bedürfnisse des Menschen rund um den Globus doch weitgehend die gleichen. So müssen sich beinahe zwangsläufig ähnliche Ausdrucksmittel finden. Den Kasper-Hauser-Versuch haben ja Antropologen weltweit immer wieder zu führen versucht, mehr oder weniger erfolgreich. Das wohl spannendste Buch zu diesem Thema ist von Claude Lévi-Strauss "Traurige Tropen". Allerdings gelingt es auch ihm nur bedingt, deine, unsere Fragen zu beantworten; nicht zuletzt deshalb, weil die von ihm beobachteten Stämme und Völker in Südamerika nie über lange Zeit ohne Kontakt zu anderen gelebt haben. Ich schätze, dass das Entstehen und der Wandel von Kultur genährt werden muß in der Interaktion mit Anderen oder dem Anderen, Fremden, Unbekannten, womit ich leider schon wieder bei der Abgrenzung lande. Verflixt und zugenäht. Es muß doch da noch eine positivere Herangehensweise geben. Vielleicht nach dem Frühstück. Ich stelle gerade fest, daß ich vielleicht ein Kulturpessimist bin!?

Ich bin nun so gespannt beim Lesen der von mir ausgelösten Debatte, dass ich mich gegen meine ursprüngliche Absicht, sie einfach laufen zu lassen, nun doch einmische am Sonntag, den 17. Dezember, 12:13

Hallo Annette und Henry,

unsere Kultur ist christlich geprägt und schon deshalb voller Widersprüche. Ich bin wie du aus der Kirche ausgetreten, aber eher aus Glaubensgründen. Die Sätze des Bekenntnisses kann ich nicht sprechen ohne zu lügen. Ich glaube nicht an die Auferstehung des Fleisches, an ein ewiges Leben, an die Jungferngeburt, an den Jesus als Gottessohn, nicht an seine leibliche Himmelfahrt und daran, dass er richten soll die Lebendigen und die Toten. Aber seine Lehre selbst, die ich achte, steht in vielen Punkten im Widerspruch zur Kirche, die in seinem Namen Kriege führte, noch heute schwangere, unverheiratete junge Frauen aus dem Dienst entlässt und zugleich Abtreibung abstraft, andere Kulturen nicht als gleichwertig achtet, sich als Stellvertreter Gottes aufspielt und damit eine Macht über die Menschen beansprucht, die nicht einmal dem Staat einzuräumen ist, die einen Glauben an Wunder fordert und mit dem jetzigen Papst noch vertärkt ins Bewusstsein drückt, Unfehlbarkeit für sich beansprucht, die historischen Zusammenhänge und Widersprüche im alten und neuen Testament durch dumpfe Glaubenslehren zudeckt. Gerade die Widersprüche aber treiben diese, unsere Kultur weiter. Sie ist labil und dynamisch. Das Sprengen von Konventionen ist Kulturprinzip, nicht nur in der Kunst.

Dazu Annette, Sonntag, den 17. Dezember, 15:40

Hallo Jörg, hallo Henry, auch ich bin aus der Kirche ausgetreten, mit 18 Jahren, das war damals noch nicht ganz so üblich, so dass meine Eltern einen Besuch vom Pfarrer bekamen, der mit ihnen über die "Jugend von heute" reden wollte. Sie waren aber glaube ich nicht allzu begeistert von dem Besuch, fanden ihn wohl eher etwas aufdringlich (verständlicherweise). Ich kann mich noch ganz dunkel erinnern, als Kind mal eine zeitlang gerne zur Kirche gegangen zu sein, weiss aber nicht mehr genau wieso. Vielleicht gefielen mir Orgelmusik und Kerzen. Ich finde auch jetzt immer noch, dass eine gut gespielte Orgel ein ziemlich beeindruckendes Instrument ist. Irgendwann ist mir dann aber aufgefallen, dass die Worte, die da gesprochen werden, also sowohl die Predigt als auch das Drumherum, für mich, wenn ich meinen Verstand benutze überhaupt keinen Sinn machen. Das muss gewesen sein als ich so 12 oder 13 Jahre alt war. Seitdem bin ich nicht mehr hingegangen. Trotzdem denke ich auch, dass wir alle christlich beeinflusst sind, und von frühester Kindheit an geprägt, was wohl teilweise unumkehrbar ist. Zu dem, was Du, Henry meinst, wenn Du schreibst, dass "wir alle von Geburt an zu schuldigen Wesen gemacht werden sollen". Wir sind alle so sehr an Schuldgefühle gewöhnt, dass wir sie nur in besonderen Fällen bemerken. Kürzlich hat eine Freundin von mir ihr Fahrrad verliehen, und diejenige, die es sich geliehen hat, ist damit in eine Eisenbahnschiene gefahren und hingefallen; daraufhin fragte sie sich allen Ernstes, ob ihr wohl jetzt die Schuld dafür gegeben würde weil es ja ihr Fahrad war? Das ist jetzt natürlich ein vielleicht nebensächlich wirkender Vorfall und auch nur als Beispiel gemeint dafür, wie es tief in uns steckt, Schuldgefühle zu haben und wie sie dann plötzlich auftauchen. Aber dass Jesus es so nicht gemeint haben kann, kann ich mir auch gut vorstellen. Jörg, Du schreibst, dass seine Lehren oft im Widerspruch zur Kirche stehen. Das finde ich interessant. Man kann zum einen die Bibel lesen, aber es soll auch noch andere überlieferte Texte geben? Aber auch bei der Bibel gibt es sicher sehr verschiedene Textstellen und auch Interpretationen? Auch die historischen Zusammenhänge, die Du ansprichst sind es sicher wert, sich näher damit zu beschäftigen.

Direkt angefragt, muss ich wieder antworten am Sonntag, den 17. Dezember, 2000 - 16:23, fast unmittelbar. Das Netz kann, wenn man dran ist, sekundenschnell sein.

Der Widerspruch zwischen der Lehre von Jesus und der Kirche bestimmt wohl auch die Dynamik unserer Psyche und Kultur. Jesus vertrat ein freies, fast revolutionäres und zugleich gewaltfreies Prinzip. Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. - Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen. - Seine Achtung vor anderen Kulturbereichen zeigt sich im Gleichnis vom barmherzigen Samariter und im Spruch zum Zinsgroschen. Sein Streiten schon als Kind schon mit den Pharisäern steht für unabhängiges, von der jeweiligen religiösen Autorität unabhängiges Denken, ebenso die Gruppenstruktur der Jünger ausserhalb der offiziellen "Kirche". Die Ersten werden die Letzten sein. - Weib, was habe ich mit dir zu schaffen, - dies sogar seiner Mutter Maria gegenüber. Das bedeutet doch wohl seine Abwendung von den Zwängen und Ansprüchen der Familie, seine Ehelosigkeit, die regionale Bindungslosigkeit der Jünger als wandernde Gruppe,- die Ausstreibung der Händler - mit der Peitsche - aus dem Tempel - und-und-und. Es ist der fast vollkommene Widerspruch zur angemassten Autorität einer "Staatskirche" als gesellschaftlicher Macht , die sich zum Beispiel später nach blutigen 30jährigem Gemetzel- bei dir Annette-in Münster zum westfälischen Frieden zusammenrottete, welche dem Volk die jeweilige Religion des amtierenden Herrschers verordnete: cuius regio - eius religio, da wo du wohnst, wird dir die Religion verordnet- null toleranz. Erst der aufgeklärte, wenig fromme Friedrich erlaubte in Preussen, jedem nach seiner faconon selig zu werden.

Annette antwortet sofort, Sonntag, den 17. Dezember, 16:48

Hallo Jörg, leider weiss ich fast nichts über historische Kriege generell, also auch nicht über den 30-jährigen; ich fand es immer einigermassen nervtötend, dass sich der Geschichtsunterricht so sehr mit Jahreszahlen von Kriegen beschäftigte, deshalb habe ich da eine Art Verdrängungsmechanismus entwickelt und alles vergessen, ausser natürlich, dass es diese schrecklichen Kriege gegeben hat und dass sie im Verlauf der Geschichte immer tödlicher wurden. Aber inwieweit es dabei um die Religion ging, bzw. ob es wirklich darum ging? Man könnte sich das generell fragen: kann, oder darf überhaupt Religion der Grund für einen Krieg sein, oder werden Religionsstreitigkeiten dann nur als willkommener Anlass benutzt? Eben war ich kurz surfen im Netz und habe Stichworte aus unseren bisherigen Beiträgen als Suchbegriffe eingegeben. Da kam ich auf seltsame Seiten: eine über "Bibelcodes", das scheint der Versuch zu sein in der Bibel Zahlenstrukturen zu finden und dadurch irgendwie mathematisch die Existenz Gottes zu beweisen; Texte über Fundamentalismus "Fundamentalismus ist religiöser Stil-Bruch" (Frage: kann es denn im Zeitalter nach der Postmoderne noch einen Stilbruch geben?) und über die Geschichte des Humanismus, da stand, dass der individuelle Mensch erst seit der Renaissance zur anerkannten Tatsache wurde; eine Seite über die Kunst des Byzantinischen Reiches, wo es u.a. darum geht, mit was für einer Geisteshaltung man die Kunstwerke als heutiger Mensch betrachten muss um sie zu verstehen, und dass "Wahrheit" und "Realität" nicht dasselbe sind; ...ich höre mal lieber auf, es wird langsam verwirrend. Werde versuchen mich in Gedanken selbst noch ein bisschen mit unserer labilen und widersprüchlichen Kultur, und der Kultur allgemein, zu beschäftigen.

Ich antworte erst einen Tag später. Manchmal geht mir selbst über die Kultur der Gesprächsstoff aus.

Montag, den 18. Dezember, 11:43

Zu aller und meiner Verwunderung sind fast alle Kriege religiös oder zumindest ideologisch begründet. Konflikte wie der in Israel-Palästina, in Irland, in Tschetschenien, Indien-Pakistan etc bis zurück in die Geschichte der Kreuzzüge. Natürlich gab es immer auch eine machtpolitische Komponente und natürlich Wirtschaftsinteressen. Eine Einigung wird durch die irrationale Grundlage fast immer erschwert. Insofern sind Religionen ein gefährliches Gebräu im Kopf der Menschen, oft ganz oder teilweise im Widerspruch zum eigentlichen religiösen Impuls des Friedens, der Liebe usw.

Annette forscht nach Spuren zum Kulturstreit im Netz, Montag, den 18. Dezember, 20:18

Eben habe ich eine interessante Internetseite gefunden auf der es um ethnische Konflikte geht. Habe die Sätze kopiert, die mir für das Thema Krieg am wichtigsten erscheinen:

"Aus der Verschiedenheit von Hautfarbe oder Religion eines Menschen muß an sich nicht mehr folgen, als aus verschiedenen Haarfarben oder Körpergrößen. Sie sagen alle nicht mehr aus, als dass sich Menschen in bestimmter, meist äußerlicher Hinsicht unterscheiden. Dies mag völlig bedeutungslos sein. Ethnizität verleiht nun bestimmten dieser Unterschiede im Gegensatz zu anderen eine besondere, herausgehobene Bedeutung, und verknüpft sie mit der eigenen "Identität" - wobei die eigene Identitätsstiftung nicht selten auch über die Definition eines "anderen" geschieht oder gefördert wird. Schwarz zu sein oder weiß, Jude oder Christ zu sein ist dann nicht länger eine Trivialität einfacher menschlicher Unterschiede, sondern Teil der Identität, die mich von anderen abgrenzt. Jetzt ist es von entscheidender Bedeutung, ausgerechnet schwarz oder weiß, Jude oder Christ zu sein. Es geht also bei der Ethnizität nicht primär um die Existenz wirklicher Unterschiede, sondern um die Definition von identitätsbezogener Bedeutung von realen oder fiktiven Unterschieden." Dazu wird auf der Seite noch die These aufgestellt, dass der Entstehung eines Krieges eine soziale oder ökonomische Stressphase in einem Land vorausgehen muss, bei stabilen politischen, rechtlichen und ökonomischen Verhältnissen käme es auch bei ethnischen Unterschieden nicht zum Krieg. Ob uns das weiterhilft? Aber ich glaube wir sollten uns vielleicht nicht zu lange beim Thema Krieg aufhalten denn das ist ja nur die eventuelle Schattenseite der kulturellen und/oder religiösen Identität/Abgrenzung?

Und weiter, Dienstag, den 19. Dezember, 15:23

Mir ist aufgefallen, dass wir bisher noch nicht beim Thema alltägliche Fernsehkultur, Zap-Kultur angekommen sind. Mir ist bei mir selbst aufgefallen dass ich, ausser im Kino, immer seltener einen Film ganz sehe, ausser wenn er beim Zappen gerade zufällig anfängt, ansonsten sehe ich manchmal ein Gemisch aus visuellen Häppchen, Filmausschnitte, aus denen man dann wieder wegzappt wegen der Werbung, um auf einem anderen Kanal in einer Dauerwerbesendung für Kosmetik zu landen und auf dem nächsten in einer Talkshow mit z.B. Schminktipps, Modeberatung oder Beratung für Schönheits-OPs, so gehen Werbung und Programm ineinander über. Eigentlich könnte man ja denken, dass, je mehr Sender es gibt, desto mehr gute Filme gesendet würden, ein besseres "Kultur"-Programm zur Auswahl, aber es scheint nicht so zu sein? Die Möglichkeit des 24-Stunden-Dauerzappens und Berieselnlassens kommt natürlich der Zielgruppe der Schlafgestörten entgegen, zu der ich auch gehöre. Vielleicht gibt es davon mehr als man so vermutet? Zu müde zu sein zum Arbeiten, Schreiben, Lesen, aber trotzdem keinen Schlaf finden. Das macht anfällig für die Fernbedienung.

Bei mir, der ich nicht schlafgestört bin, ist der Vormittag die Hauptarbeitszeit, als Lehrer, als Maler, am Computer. Auf das Zappen mag ich gerade nicht eingehen, es ist von Annette treffend beschrieben. Dafür muss nun endlich das leidige Thema wenigstens angesprochen werden. Mittwoch, den 20. Dezember, 11:50.

Zum Thema deutsche Leitkultur fallen mir nur polemische Sprachbilder ein, wie Leithammel, Leitsystem, Leitlinie, Leitzordner. Die Bürokratisierung im deutschen Kopf erfasst offenbar auch den Kulturbegriff. Zumindest im konservativen Lager. Heute lese ich in der Zeitung, dass die konservative Front in der Nachbarstadt Minden es wohl endlich geschafft hat, die Skulptur von Wilfried Hagebölling von dem Martinikirchhof weg und in den städtischen Bauhof zu bringen, "in einen der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Ort", wie es in dem Schreiben an den Künstler heisst. Der Bildhauer klagt. Ich denke, die Leitkultur hat schon einmal das Deutsche gegen das Entartete durchzusetzen versucht. Die Skulptur heisst "Keilstück". Ein nun besonders treffender Name. Für die geplante Veröffentlichung unserer Diskussion in der Zeitschrift "betrifft" schlage ich als Ergänzung einen Blick in das Internetprojekt

http://ww.leidkultur.de

vor. da sind Fotografien, die zeigen, was als deutsch gelten möchte, eine Schau zum schaudern.

Annette, Mittwoch, den 20. Dezember,15:11

Jetzt komme ich doch nochmal kurz auf das Thema Religion zurück; diesmal aber nicht auf die Kriege; eher auf das was für Menschen früherer Zeiten sicher sowas wie Normalität war: das Ritual der Beichte. Anlass ist ein Film, den ich gestern in der Glotze gesehen habe, an sich kein Meisterwerk der Filmgeschichte, aber für mich interessant wegen der Verbindung zum Thema. Es ging um einen Priester bei dem ein psychotischer Serienmörder die Beichte ablegte und darum, dass andere Personen in dem Film von ihm erwarteten, der Polizei Hinweise auf den Täter zu geben. Da wäre man wieder beim Thema der Moral und wie und ob man überhaupt absolute Grundsätze festlegen kann - das "normale" Empfinden sagt vielleicht: Mord ist ein Verbrechen, dass in allen Kulturen der Welt als das Schwerste angesehen wird und die Verhinderung von Morden muss an erster Stelle stehen. Aber die Kirche, wohl nicht nur im Film sondern auch in der Realität, würde die Absolutheit des Beichtgeheimnisses noch darüber stellen, was zwar aus ihrer Sicht irgendwie verständlich ist, weil ja wohl auch ein Mörder zur Beichte muss (was ihm wohl als Busse auferlegt wird? 20 Vaterunser statt 10?), aber dem "gesunden Menschenverstand" (der aber auch manchmal eine zweifelhafte Instanz ist) doch zuwiderläuft. Aber bei dieser Gelegenheit ist mir aufgefallen, dass nicht nur die Absolutheit der Sakramente und Dogmen mir unheimlich ist sondern auch z.B. dieses seltsame Ritual der Beichte an sich, in einer kleinen Holzkiste zu sitzen und dem Priester etwas ins Ohr zu flüstern, um anschliessend ein paar Formeln zu hören und 10 Vaterunser als "Strafarbeit" aufgebrummt zu bekommen; also die seltsame Mischung aus der vorangegangenen Erzeugung von Schuldgefühlen und anschliessend ihrer rituellen Vergebung. Deshalb würde ich dem zustimmen, dass die Religion ein seltsames Gebräu in den Köpfen erzeugen kann. Aber das kann vielleicht auch die deutsche Leitkultur? Dazu fiel mir eben, als ich noch beim Thema Moral war, dazu ein, dass es wohl Zeiten gegeben hat, in denen "Vaterlandsverrat" als schweres Verbrechen, Völkermord aber als normal angesehen wurde?

Am Mittwoch, den 20. Dezember, 19:51, bin ich doch wieder bei dem christlich-demokratischen Thema:

Das Wort deutsche Leitkultur ist für mich ein Widerspruch in sich. Die Kulturentwicklung, für mich am Beispiel der Kunst, ging immer aus dem Widerspruch gegen die bisher bestehende Kultur und die mit ihr verbundenen Verengungen und Erstarrungen hervor. Die jeweiligen neuen Epochen und Stile sprengten das Bestehende mit einer meist gegenläufigen Tendenz. Kunst ist so auch Widerstand gegen gesellschaftliche Normen und Übereinkünfte, eben gegen jede Leitung und ihren Anspruch. Kunst/Kultur ist die Entwicklung des Neuen und die Aneignung des Fremden, der japanischen Grafik etwa durch van Gogh und Toulouse-Lautrec, der afrikanischen Skulptur durch Picasso und die deutschen Expressionisten. Oft geht die Entwicklung aus dem Angriff hervor gegen den bestehenden Kunst- und Kulturbegriff, in Frankreich des 19. jahrhunderts gegen die Kunst des Salons und ihren bürgerlichen Anspruch. In diesem Sinne ist das Bestehen auf Leitkultur eher Unkultur und bürgerliche Barbarei der Bequemlichkeit, der Bevormundung, eine Art, dem Neuen, Fremden ablehnend zu begegnen und Neuartiges zu ersticken. Zum Glück gelingt das nicht, auch nicht bei der nationalen Leitkultur des Dritten Reiches.

Bis Freitag, den 22. Dezember kommt kein neuer Diskussionsbeitrag. Ich finde einen Text von Vilém Flusser, dessen Vorträge mich oft fasziniert haben und den ich noch persönlich kennenlernen konnte. Ich bringe ihn in das Gespräch um 15:47

Über die Chance der Migration lese ich in einem Zitat von Flusser:"Den grössten Teil meines Lebens engagierte ich mich in dem Versuch, eine brasilianische Kultur (Flusser lebte lange in diesem Land) aus okzidentalen und levatinischen, aus afrikanischen, eingeborenen und fernöstlichen Kulturelementen zusammenzufügen...die Migration ist eine kreative Situation..." vielleicht ist eine Ursache für die häufig festzustellende Überlegenheit des jüdischen Denkens - auch Flusser war Jude - in der Not der ständigen Vertreibung, der "babylonischen Gefangenschaften", der Fluchten durch Jahrhunderte und der Konfrontation mit und der Aneignung von fremden Kulturen zu finden, in dem Zwang zur ständigen, lebenserhaltenden Reflexion, Aneignung und Synthese.

An die Gesprächsteilnehmer schicke ich Weihnachtsgrüsse am Samstag, den 23. Dezember, 11:05

Ich kämpfe gerade mit dem Projekt Kultur- und der Ausstellung für Düsseldorf-Zeitsprung. Langeweile stellt sich auch in den Pausen nicht ein, weil der Kopf wie ein Computer weitersummt. Manchmal wünsche ich mir ein wenig Langeweile, oder wie man das früher nannte, Muße.

Liebe Wünsche zur holden Weihnachtszeit auch an den Weihnachtsmann, diese jetzt allgegenwärtige Kultfigur, die, wie ich aus einem Vortrag meines Freundes Andreas Beaugrand gelernt habe, in seiner rot-weissen Pelzerscheinung ein Werbelabel von Coca Cola ist.

Am Heiligen Abend gibt es noch einen "Kulturaustausch", der das Internet als Medium und Kokon begreift.

Annette schreibt Sonntag, den 24. Dezember, 06:08.

Vielleicht sind wir beides in einem, Fliegen und Spinnen, wir versuchen ja auch das Netz zu weben, also sind wir auch ein bisschen Spinnen, aber ziemlich junge Spinnen, scheint mir, die es noch nicht so genau wissen, wie es geht, unser Netz ist noch recht klein. Aber, da wären wir schon wieder beim Thema "gibt es absolute Kultur?" Irgendwoher wissen Spinnen ohne es zu lernen sehr wohl, wie es geht, ein Netz zu weben, und nicht versehentlich einen Topflappen zu häkeln; es soll angeboren sein, also nicht nur körperliche Merkmale sind vererblich, es gibt auch archetypische Vorstellungen, z.B. Symbole, ich glaube Nachfolger oder Geistesverwandte von C.G. Jung hätten mehr darüber zu berichten. Auch wir haben vielleicht bestimmte Verhaltensmuster angelegt, auch solche, die mit Kultur zu tun haben, so dass sich weltweit ähnliche Merkmale von Kultur entwickeln? Gleichzeitig sind wir aber auch ein bisschen wie Fliegen gefangen in dem was wir selbst geschaffen haben und hängen nun vielleicht in unserem eigenen Netz?

In der "offiziellen" genauso wie in der Subkultur, tauchen dann immer irgendwann gegenläufige Tendenzen auf. d.h. es gab verschiedene Arten der Abgrenzung oder des Rückzugs aus der Öffentlichkeit. Die Punk-Kultur als Abgrenzung durch für Normalbürger erschreckendes Äusseres. Party-kulturen die sich in "clubs" treffen, in Räumlichkeiten ohne Fenster, die von Szenefremden kaum betreten werden. Da fällt mir eine Wg-Küche ein, deren Bewohner ein Gärtnereischild für ihre Tür zweckentfremdet haben: "Kulturen - betreten verboten". Aber gleichzeitig ist ein kulturelles Leben überhaupt, z.B. eine Musikkultur, doch immer für irgendeine Öffentlichkeit gedacht; und die Subkultur existiert vielleicht nur durch ihre Abgrenzung vom jeweiligen mainstream, so dass ein ständiges Spannungsfeld entsteht? Dazu kommen dann noch Erscheinungen, die dem äusseren Anschein nach auch dem Wunsch nach einer Zeitmaschine entspringen könnten wie das Wiederauftauchen der modischen Stilrichtungen der vergangenen Jahrzehnte (das aber nicht unbedingt bedeuten muss, dass die jeweiligen Träger der nostalgischen Kleidungsstücke unbedingt sich intensiv mit der Zeit auseinandergesetzt haben müssen).

Nach Weihnachten, einem Kulturereignis, das von Juden, Moslems, Buddhisten, Zeugen Jehovas und vielen anderen kulturellen Gruppen nicht gefeiert, von uns christlich erzogenen Menschen jedoch für das Wichtigste gehalten wird, geht das Gespräch weiter.

Joachim Bertram macht auf ein eher vitales Bedürfnis aufmerksam, Dienstag, den 26. Dezember, 11:31

Kultur - sub oder hoch, ist doch auch ein Stück Nestwärme, sich identifizieren, einkuscheln. Ein täglicher Umgang mit dem Selbstverständlichen, das erst in der Begegnung mit dem Fremden nicht mehr so selbstverständlich ist. Vielleicht auch daher die Angst und die Ablehnung des Fremden mit den daraus sich entwickelnden Agressionen - aus Angst um die eigene Sicherheit und das Selbstverständnis.

So gerät das Gespräch im Eindruck von Kälte und Dunkelheit im Winter in ein Bedürfnis nach Nähe zu Menschen, welche das Netz nicht bieten kann und auch nicht die Problemdiskussion.

Annette, Dienstag, den 26. Dezember, 17:17

Das mit der Nestwärme stimmt, das ist sicher manchmal das, was man sucht, in den kleinen Kreisen, in die man sich zurückgezogen hat. Das wäre dann sowas wie Familienkultur, eine Art Wahlfamilie. Früher muss es ja sowas wie Familienkultur gegeben haben, d.h. von einer Generation zur nächsten weitergegebener Beruf, dann Familienwappen u.ä. oder im häuslichen Bereich Rezepte, Web-Stick- und-sonstige Handarbeitstechniken usw. - Kann man das vergleichen mit den heutigen Gruppenkulturen? - teilweise sicher; Frisur und Kleidung sind nicht unbedingt was sehr anderes als der traditionelle Familien-kilt in Schottland z.B. (hoffentlich stimmt das jetzt, ich war noch nie in Schottland). Die Gefahr dabei wäre dann, dass die "Familie" zu klein oder zu in sich abgeschlossen werden könnte und dann in Strukturen der neurotischen Kleinfamilie verfällt? (ich meine damit nicht, dass jede Kleinfamilie neurotisch sein muss, nur dass die Gefahr besteht - und das passt auch zur Angst vor und zur Ablehnung von Fremdem).

Es ist schön im Delta, der schönste Ort - in allen Kulturen.

Ich schliesse vorläufig die Diskussion - ich habe einen Termin zur Abgabe des Textes - wieder mit einem Fetzen Zeitung. Heute, am 4.1.2001 steht im Lokalteil der Stadt Herford, in der ich lebe, dass die Polizei einen Mord aufgeklärt hat. Ein türkischer Mann habe als Postbote verkleidet einen anderen türkischen Mann an seiner Haustür erschossen. Motiv Rache für einen früheren Mord an seinem Bruder, über den ein Familien-Ältestenrat ein Todesurteil gefällt habe aufgrund sexueller Ansprüche. Ist der Artikel fremdenfeindlich? Bin ich es, dass ich ihn hier erwähne? Ist auch die Tradition einer mörderischen Familienfehde Kultur?

 

Herford, 6.1.2001

Jörg Boström

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Kopftuch ist ein Kopftuch ist ein Kopftuch... , ... .. Nr. 163, September 1998, Online Ausgabe Seite 83, HU-Diskussionsredaktion Ein Kopftuch ist ein Kopftuch ist ein Kopftuch... Kritische Bemerkungen zur ... www.humanistische-union.de/hu/nummer163/083.html

Romafrau bei Brüssel, dezember 1982

Felszeichnung, Valtotorta-Schlucht, Ostspanien

Goya, Duro es el paso! Hart ist der Weg, 1810

Romafamilie, Vertreibung aus Bonn im Dezember1982

Romaunterkunft, Brüssel, Dezember 19982

Vor der Vertreibung aus Bonn, Dezember 1982

In Brüssel- fotografisches Wiedersehn

Mit ungültigem Pass vom Papa

Ungültig gestempelt-jugoslavischer Pass, Brüssel, Dezember 1982

Eine Gruppe von Romafamilien, aus Holland vertrieben, schlugen aus Not im Winter ihr Lager in Bonn in der Nähe des Bundestages auf. Zwei Politiker organisierten für eine Übergangszeit eine Notnterkunft in einem leerstehenden Schulgebäude. Kurze Zeit später wurden sie nach Brüssel auf einen industrienahen, unwirtlichen Schrottplatz abgeschoben. Dies geschah um Weihnachten 1982" ...sie fanden sonst keinen Raum in der Herberge."

Romajunge in Bonn wird angepöbelt und wehrt sich mit der Zunge

Guten Tag, Nebelmensch!

Datum: Sat, 30 Dec 2000 11:38:17 +0100

Nofretete verehrteste Frau Ägyptens

unbekannter Herkunft entgegen der Sitte

Dass sie die Frau des Amenophis III gewesen sei, bleibt Vermutung

Als ihre Amme ist Teje, die Frau des Eje bekannt

Ihr Name "die Schöne ist gekommen"

Hauptgemahlin von Echnaton und Mutter von sechs Töchtern

Und bezog im Norden der Stadt einen eigenen Palast

Allerdings bleibt die Entfremdung des Paares fraglich

Das Ende der N. liegt im Dunkeln

(das gro§e Lexikon der Ägyptologie)

Es ist so schön im Delta!

Keine Wüste, sondern Palmen und Kleefelder.

Ein Mann, der dasteht mit den Händen in den Hosentaschen, und in das Schreien der Falken hineinsagt: und da ist der Palast!

Dreissig Zentimeter unter der Gegenwart gibt es soviel Zeit, man muss nur anfangen, zu graben.

Einen Gruss aus Berlin,

Kerstin